Donnerstag, 2. Oktober 2008
von Neuvy-St. Sépulchre nach Gargilesse

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Um 8 Uhr treffen wir uns zum Frühstück. Das Wetter sieht recht ungemütlich aus. Tief hängen dunkle Regenwolken. Heute Nacht hat es gestürmt, Wind und Regen en masse. Unser Pilger-Tagewerk beginnt jeden Morgen mit dem gleichen Ritual: Aufstehen, Rucksack packen, frühstücken, Rechnung zahlen, Pilgerpass stempeln lassen. Es gibt keinen schönen Stempel heute morgen, nichts was auf den Jakobsweg hinweist - nur den Namen des Hotels: Hotel-Restaurant La Charette.

Um 9 Uhr sind wir startbereit, Rucksack auf den Rücken, Pilgerstab in die Hand und den Weg "unter die Füße". Feucht und kalt ist der Morgen. Gegenüber vom Hotel, auf dem Place du Champ de Foire, festgebunden an einen Baum, grast ein Kamel und frisst Blätter von den Bäumen, Pferde und Esel leisten ihm Gesellschaft. Ein Circus hat hier seine Zelte aufgeschlagen. Wir haben ihn gestern Abend schon beobachtet. Unser Weg führt abwärts ins Zentrum des Städtchens. Wir müssen noch Brot kaufen - nicht nur Brot - auch Jakobspilger lassen sich schnell verführen von süßem Gebäckzeug wie .Pain aux raisins". In der Apotheke fragen wir nach dem "Compeed- Wunderpflaster" für vom Jakobsweg geschädigte Füße. Madame weiß sofort, was wir wollen, seine Wirkung ist auch hier bekannt. Noch benötigen wir es nicht. Wir sorgen vor, wer weiß, was wir alles noch erleben unterwegs?

$bb-01$ Ein letzter Blick zur Wallfahrtskirche Neuvy-Saint-Sepulcre. die dem hl, Jakobus geweiht war, aber im 19. Jh. dem hl. Stephanus geweiht wurde und in der ein Reliquiar mit dem Blut Christi aufbewahrt wird. Mit morgendlichem Schwung geht es hinein in den neuen Tag. Wir folgen den Zeichen unseres Pilgerweges. Wir begegnen Müttern, die ihre Kinder zur Schule bringen. Hagebuttenhecken schmücken den Schulhof. Bald verlassen wir die Hauptstraße, ein Rinnsal quert unseren Weg, kein Problem - mit ein paar Schritten schaffen wir es spielend, die andere Seite zu erreichen. Wir kommen zu einer schönen Allee, die an einem Weiher vorbeiführt. In der Ferne beobachten wir einen Fischreiher, der auf der Suche nach einem saftigen Frühstück ist. "Des einen Freud ist des anderen Leid". Eine weiße Schafherde trottet über den Weg. Eine wenig befahrene Landstraße führt an alten Bauernhäusern - Le Terrier - vorbei. Renate macht uns aufmerksam auf die schönen, reifen Tomaten, leider sind die Wohnhäuser zu nahe .....

$bb-02$ Nussbäume, Hecken und Wiesen bestimmen die Landschaft. Wir nehmen einen Feldweg mit weichem Gras, der zu beiden Seiten mit wilden Hecken zugewachsen und überwuchert ist und gerade von einem â€Heckenfrisör" bearbeitet wird. So nennt Toni den Mann, der mit seinem Fahrzeug die Hecken wieder pilgerfreundlich zurecht stutzt. Wir begegnen friedlich grasenden, rotbraunen Rindern, die sich von uns nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ein schöner Weg ist das heute morgen, Ruhe und unverfälschte Natur. Auch am Himmel gibt es Lichtblicke, die ersten blauen Flecken sind zu sehen. Hinter Mouhers ist Rosenkranzzeit . Eine Teerstraße führt uns den Berg runter ins Tal zur Brücke über den kleinen Fluss Bouzanne. Eine alte Mühle ist zu sehen. Wir sind schon in Cluis-Dessous. Im ersten, einsamen Haus am Pilgerpfad füttert eine Frau ihre Hühner.

$bb-03$ Mit offensichtlicher Freude unterhält sie sich mit uns. Wir erzählen ihr von unseren Abenteuern. Als wir uns verabschieden, möchte sie uns einen Strauß von ihren schönen orangefarbenen Lampionblumen schenken. Nein, Jakobspilger dürfen auf ihrem Weg die Schönheiten der Natur nur anschauen, besitzen - nein. An unserem Rucksack hängt eine Muschel, wir sind piIgernd unterwegs. Mit wenig Bedürfnissen sind wir frei und unabhängig. Es tut gut, einige Zeit auf selbstverständliche Dinge zu verzichten. Wir winken dankend ab und nehmen den Pfad aufwärts zu den Überresten der alten Festung von Cluis-Dessous aus dem 12.-15. Jh. Das Tor mit seinem beiden Seitentürmen ist am besten erhalten. Diese Ruinen beherrschen auch heute noch das Tal von la Bouzanne, mächtige Zeugen vergangener Zeiten, und doch erzählen sie auch von der Vergänglichkeit alles Irdischen.

$bb-04$ Jakobus meint es heute gut mit uns, es regnet nicht. Bei der Kapelle Notre Dame de la Trinité, ein Wallfahrtskirchlein aus dem 15. Jh., das leider geschlossen ist, finden wir auf einer Rasenfläche einen idyllischen Rastplatz, einen runden, steinernen Tisch und Sitzgelegenheiten, eine Einladung an Pilger und Wanderer. Es ist 11.40 Uhr, 8 km haben wir bereits zurückgelegt. Gegen eine Erfrischungspause haben auch Jakobspilger nichts einzuwenden! Manfred betätigt den Selbstauslöser meines Fotoapparates. Links unten im Tal ist ein großer Steinbruch, ständig passiert ein LKW die Straße. Der Granit reicht hier bis an die Erdoberfläche. Die Limousiner bauten damit nicht nur ihre Häuser und Kirchen, durch ihre handwerkliche Kunst wurden die Steinmetze, die Maçons de la Creuse bekannt, seit dem 15. Jh. arbeiteten sie auf Baustellen in ganz Frankreich, Armut trieb sie in die Fremde.

Um 12.00 Uhr sind wir an der St. Paxent-Kirche des Ortes Cluis (früher Cluis­Dessus) Ich entdecke einen kleinen Lebensmittelladen, dort gibt es sicher auch Käse und Wurst zu kaufen. Schnell bin ich dort. Ich kann doch nicht immer Manfreds Schinken und Käse wegfuttern! Als der Patron bemerkt, dass ich auf dem Jakobsweg bin, lässt er mich nicht mehr gehen. Ich muss ein Fotoalbum anschauen, in dem Pilger zu sehen sind, die bei ihm eingekauft haben. Er legt mir eine lange Liste vor, in die auch ich meinen Namen eintragen muss.

Renate, Toni und Manfred sind derweil schon in der Kirche verschwunden. Ich folge ihnen. Eine Madonna aus dem 14. Jh. wird hier verehrt. Manfred ist bestürzt über den Zustand im Innern der Kirche. Nur mit Mühe und Not können wir ihn davon abhalten, die Feuerwehr zu rufen. Er möchte, dass die Sapeurs­pompiers die Kirche innen abspritzen und von Staub und Spinnweben befreien. Aber Manfred, die Kirche wurde doch schon im 13./14. Jh. gebaut! Stempel und Stempelkissen sind zwar neueren Datums, doch ganz einfach ist es nicht, unseren Pilgerpass zu stempeln.

$bb-05$ Wir verlassen den Ort. Über einen Wanderweg kommen wir zur alten Eisenbahntrasse und zum Viaduc de l'Auzon, das 1899 fertig- und Ende 1952 wieder stillgelegt wurde. Von 20 Bogen wird es getragen, es ist 500 m lang. Diese Trasse verband Argenton-sur-Creuse mit La Châtre. Eine wunderschöne Aussicht haben wir von hier oben ins Tal des Auzon, ein Nebenflüsschen der Bouzanne, die in die Creuse mündet, die Creuse fließt in die Vienne, die Vienne in den größten Fluss Frankreichs, in die Loire, die wiederum nimmt den Weg zum Atlantik. Frankreich hat mit seinen vielen Flüssen und Kanälen ein dichtes Netz von Wasserstraßen.

Am Ende des Viadukts führt ein schmaler, steiler Pfad den Abhang hinunter. Wie in den Bergen ist seitlich ein Halteseil montiert, mit dessen Hilfe wir wieder gut ins Tal kommen. Wir laufen noch ein Stück Landstraße bergauf Richtung Neuville, immer wieder Ausschau haltend nach einem geeigneten Fleckchen Natur, wo wir Mittag machen können. $bb-06$ Durchs Maisfeld schlängeln wir uns zu einem schönen Aussichtspunkt oberhalb einer Böschung. Noch ist das Wetter freundlich, Brot mit Käse und Schinken schmeckt gut, stillt den Hunger, Wasserflaschen werden geleert, Äpfel liefern Vitamine, und Ton; sorgt mit Schokolade für den Nachtisch. Die müden Füße ausstrecken, ein kurzes Mittagsschläf chen. Was will ein Pilger noch mehr - das einfache Leben - es gefällt uns! Doch rasch wird unserer Siesta unterbrochen, die ersten Regentropfen beenden die Mittagsruhe. Schnell alles zusammenpacken, weiter geht die Wanderung über die Landstraße. Aus den kleinen Tröpfchen ist mittlererweile ein kräftiger Regen geworden, ein abkühlendes, nasses Wandervergnügen. Regenponcho anziehen oder Schirm öffnen, mit flottem Schritt geht es durch den kleinen Ort Halle, der nur aus ein paar Häusern besteht, nach Pommiers, im strömenden Regen über die Landstraße! Doch Ultreya! Auf geht's!

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Immer weiter! Irgendwann muss es wieder aufhören mit dem Segen von oben. Vielleicht gibt es ein Cafe in Pommiers? So eine heiße Tasse Kaffee in gemütlicher Stube würde uns wieder aufwärmen! Das erste Lokal ist geschlossen. Wer geht in diesem gottverlassenen kleinen Ort mit ca. 300 Einwohnern in der Woche Kaffee trinken?

In die Kirche können wir auch nicht, zugesperrt. Ein zweites Lokal entdecken wir. Die Tür ist ebenfalls geschlossen, hinter den Fensterscheiben sitzt eine ältere Frau, sie ist mit ihrem Strickzeug beschäftigt. Manfred klopft. Sie öffnet das Fenster und spricht mit uns. Nach anfänglichem Zögern lässt sie uns in ihren Gastraum. Dieses Lokal ist für immer geschlossen. Sie ist $bb-10$ die Chefin, schon über 80 Jahre ist sie alt, fast an jedem Finger trägt sie einen Ring. Sie lebt allein hier, ihre Kinder sind aus dem Haus. Pulverkaffee möchte sie uns machen. Nein, wir bitten um richtigen Filterkaffee, was sie dann auch gerne für uns tut. Irgend einer unserer Pilger meint, so ein richtiger Cognac würde uns sicher auch gut bekommen. Ich fürchte, dass er mich umhaut und ich nicht mehr richtig laufen kann. So einen ganzen Cognac schaffe ich selten. Doch ich stelle fest, nach dieser kalten, nassen Wanderung schmeckt die Kombination Kaffee und Cognac köstlich und wirkt Wunder! Was man nicht alles auf dem Jakobsweg lernen kann!

17 km haben wir mit dem Erreichen von Pommiers zurückgelegt, 7 km haben wir noch vor uns. Es muss weitergehen! Über die Landstraße, immer noch regnet es. Wir sind froh, dass wir wieder einen Waldweg erreichen und dann einen grasbewachsenen Weg, der allerdings aufwärts führt und auch recht beschwerlich ist. Selbst Manfred ist mucksmäuschen still. Doch irgendwann führt auch dieser Weg wieder abwärts, Gargilesse liegt in einem anmutigen Tal am gleichnamigen Bach.

$bb-11$ Um 17.20 Uhr haben wir unser Ziel erreicht und sind bereits in unseren Zimmern im Hotel Les Artistes". Duschen, ausgehfein machen, nach Hause telefonieren, Karten schreiben. Wir treffen uns noch vor dem Abendessen zu einem Rundgang durch den kleinen, schmucken Ort. Er gehört zu den 100 schönsten Orten in Frankreich. Nach einem so langen Wandertag ist es besonders schön, mit gemächlichem Schritt durch diesen alten, hübschen Ort zu streifen. Eine romanische Kirche mit einzigartigen Fresken, ein Schloss und das alte Bauernhäuschen der französischen Schriftstellerin Gorge Sand sind Anziehungspunkte für Touristen. Wir sind zu spät, die Eglise Notre-Dame ist bereits geschlossen. $bb-12$ Unterhalb der Kirche liegt das im 17. Jh. erbaute Schloss, wir besichtigen es von außen. Das Haus von George Sand finden wir schnell. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine der größten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Ihr männliches Pseudonym hatte sie von einem jugendlichen Freund übernommen, mit dem sie ihre ersten Arbeiten veröffentlichte. Aurore Dupin war ihr richtiger Name. Neben vielen Romanen schrieb sie auch sozial kritische Beiträge, in denen sie die Emanzipation der Frauen einforderte. Der Freundeskreis der eigensinnigen, oft in Männerkleidung auftretenden und Zigarre rauchenden Schriftstellerin umfasste berühmte Schriftsteller und Komponisten ihrer Zeit. Die auch naturwissenschaftlich gebildete Autorin nannte ihr Haus in Gargilesse nach dem seltenen Schmetterling "Algira". Sie hatte ein Landgut in Nohant, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, doch mit ihrem letzten Lebensgefährten, dem Bildhauer Manceau, zog sie sich gerne in diese ländliche Idylle in Gargilesse zurück. Dieser Ort ist auch heute noch eine Oase für Künstler. Viele moderne Skulpturen stehen am Weg.

$bb-13$ Ein "Überraschungsregen" hört schnell auf. Ein schönes buntes Himmelstor, ein Regenbogen aus Licht und Farben spannt sich über den kleinen, romantischen Ort und wünscht einen frohen Tagesabschluss. In warmen Herbstfarben erstrahlen die Bäume, der wilde Wein an den Häusern und der üppige Blumenschmuck auf den Fensterbrettern, auf den Treppen und in den Vorgärten. Wenn man wie wir durch Wald und Feld, Berg und Tal hautnah mit Erde, Wind, Sonne und Regen in Kontakt ist, erlebt man ganz besonders die Schönheit der Schöpfung.

Nach der Rucksackverpflegung des heutigen Tages kehren wir mit großem Appetit zurück zu Les Artistes. Ein kurzer Besuch an der Bar, dann werden wir im Speisesaal erwartet. Mit der Wärme des Ofens im Rücken, Rot- und Weißwein und einem guten Abendessen auf unserem runden Tisch sind wir vollends zufrieden mit unserem Pilgertag. $bb-14$

Brigitte


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