Sonntag, 3.10.1999 -
von Roncesvalles nach Larrasoaña (27 km)
Es war schon dunkel, als wir gestern Abend die kurvenreiche Strecke durchs Valcarlos-Tal hinauf zum
Ibaneta-Pass und dann wieder hinunter nach Roncesvalles fuhren. Die moderne Kapelle auf dem Ibaneta-Pass,
die 1978 von den Basken errichtet wurde zur 1200-Jahrfeier ihres Sieges über Karl den Großen, war leider
schon geschlossen. Burguete, ein kleiner Ort 3,5 km hinter Roncesvalles, war Treffpunkt der diesjährigen
Jakobspilgerschar. In Tonis Auto zeigte der Kilometerzähler 1.270 km an, als wir im Hotel Loizu ankamen,
ein fast berühmtes Hotel. Hemingway beschreibt es in seinem Buch „Fiesta“ und lässt Romanfiguren einige
Tage dort wohnen. Beatrix, Toni, Wolfgang und ich waren die letzten, die eintrafen. Einige aus unserer
Pilgergruppe hatten sich mehr Zeit für die Fahrt genommen, sie waren bereits 2 Tage unterwegs. Eine
Übernachtung in Tours mit Besichtigung der Basilika St. Martin hatten sie uns voraus.
Zum Abendessen waren wir alle zusammen und besprachen den heutigen Tag, freuten uns auf den neuen Pilgerweg,
den richtigen Camino Santo, der uns dieses Jahr zum ersten Mal durch Spanien führt.
Heute ist Sonntag, um 8.30 Uhr treffen wir uns zum Frühstück. Frühaufsteher haben schon ein Auto irgendwo
an der Strecke abgestellt. Ich weiß nicht wo, ich weiß auch nicht wer gefahren ist. Ich habe nicht
aufgepasst, als geplant wurde. Wir möchten heute Morgen gerne einen Gottesdienst besuchen. Aber wo?
In Burguete ist die Messe erst um 10 Uhr, so lange können wir nicht warten. Wir haben heute 27 km zu
erwandern, für den ersten Tag ist das sehr viel. Wir wissen nicht wie der Weg aussieht, wieviel Zeit
wir benötigen. Sollten wir nicht erst einmal losziehen und dann unterwegs ….. oder heute Abend ….. muss
die Messe denn heute Morgen ….. könnten wir nicht einmal ausnahmsweise einen Sonntag ….. die Meinungen
sind unterschiedlich. Alle möchten so schnell wie möglich den Weg unter die Füße nehmen.
Nach dem Frühstück fahren wir mit den restlichen Autos zurück nach Roncesvalles. Dieser sagenumwobene
Ort war im vorigen Jahr das Ziel unserer Wanderung, dieses Jahr werden wir dort beginnen. Untrennbar
ist Roncesvalles mit dem Rolandslied verbunden. Es berichtet von dem Kaiserneffen Roland und seinen
Begleitern, die im Jahre 778 hier aus dem Hinterhalt überfallen wurden von den Verteidigern des Islams
in Spanien. Oder waren es die Basken, deren Königsstadt Pamplona Karl der Große, damals erst König des
Frankenreiches, hatte verwüsten lassen? Rolands Hilferufe mit dem Horn Olifant drangen im fernen Valcarlos
zwar an des Königs Ohr, doch die Hilfe kam zu spät zu seiner Nachhut. Roland und seine Gefährten waren der
Übermacht des Feindes zum Opfer gefallen. In der Krypta der Heilig-Geist-Kapelle, im Silo de Carlomagno
sollen die Frankenritter begraben liegen. Vom Kloster und dem Hospiz erzählen viele alte Reiseberichte.
Das Hospiz gehörte zu den wichtigsten und ältesten am Jakobsweg. Die nach der gefährlichen Pyrenäenüberquerung
erschöpften Pilger bekamen zu essen, sie konnten sich waschen und die Haare schneiden lassen, die Kleider
wurden geflickt und die Schuhe besohlt. Drei Tage durften sie im Kloster bleiben.
Nein, so lange wollen wir uns nicht aufhalten, in 11 Wandertagen möchten wir Burgos erreichen. Von
Roncesvalles bis Santiago sind es noch 787 km - eine unmögliche Zahl; in so großen Entfernungen dürfen
wir nicht denken, 20 bis 25 km pro Tag, das ist überblickbar.
Das Wetter ist heute Morgen nicht gerade einladend, leichter Sprühregen, neblig, ziemlich kalt. Noch
sind wir in den Pyrenäen, 952 m hoch.
Wir haben Glück, Toni darf in der alten dreischiffigen Stiftskirche aus dem 13. Jahrhundert mit uns
eine Messe feiern. Schon beim Eintritt in diese Kirche empfängt mich eine angenehme wohltuende Wärme -
das krasse Gegenteil zum regnerischen Draußen. Ich fühle mich richtig wohl in der dämmerigen, Geborgenheit
schenkenden Kirche. Über dem Hochaltar unter einem Baldachin befindet sich die berühmte Statue der Madonna
von Roncesvalles, die zu den schönsten Werken der Gotik gehören soll, eine sitzende Madonna aus Zedernholz,
ganz mit Silber überzogen, geschmückt mit Gold und Edelsteinen, eine schwere Krone auf der Stirn, eine
junge Frau, die mit ihrem Kind Zwiesprache zu halten scheint.
In der Messe spricht Toni von Aufbruch. Ja, für uns ist es der 5. Aufbruch zur Pilgerung auf dem Jakobsweg.
Viele Menschen sind von diesem Kloster hier im Laufe der Jahrhunderte aufgebrochen - so wie wir heute
Morgen - zur großen Wallfahrt nach Compostela, damals ein gefahrvolles Unternehmen, und viele sind nicht
mehr zurückgekommen. Etwas wie Ehrfurcht befällt mich, als ob wir mit dieser Messe einbezogen werden in
die große Schar der Pilger, die vor uns diesen außergewöhnlichen, geheimnisvollen (?) Weg zurückgelegt
hat. Für mich ist es ein besonderes Erlebnis, dass wir unsere Aufbruch-Messe gerade in diesem Gotteshaus
feiern dürfen. Es ist Zeuge einer großen Geschichte, nicht nur Kunst, Baustil und Steine beeindrucken,
auch das, wofür sie symbolisch sind. Ich versuche, mich in die Menschen hineinzuversetzen, die im
Mittelalter diese Pilgerschaft gewagt haben. Familie, Haus und Heimat haben sie verlassen ohne zu wissen,
ob sie überhaupt ankommen oder auch wieder gesund nach Hause zurückfinden. Wie muss es ihnen zumute
gewesen sein ohne diese Sicherheiten, die wir heute auf unserer Wanderung haben: Autos, Handys, gute
Wander- und Straßenkarten, markierte Wege, entsprechende Kleidung, Hotels mit bester Verpflegung, eine
Gemeinschaft, die trägt und hält? Nein, für uns ist dieser Jakobsweg kein Opfer, wir sind keine büßenden
Pilger, ganz im Gegenteil, ich freue mich jedes Jahr auf diese zwei Wochen. Ob die mittelalterlichen
Pilger sich auch freuen konnten, oder war es nur die Angst vor Höllenqualen und die Suche nach Erlösung,
die sie auf den Weg trieben?
Ein paar Bänke hinter uns sitzt eine junge Frau in Wanderkleidung und mit Rucksack. Wird sie ganz allein
diesen Weg gehen? Könnte ich das auch? Nach der Messe singen wir das Magnificat, ein letzter Gruß an die
Madonna mit der Bitte um ihren Segen für unseren Pilgerweg.
Am Stein zur Erinnerung an die Rolandssage treffen wir uns zu unserem Gemeinschaftsphoto. Den schönen
Pilgerstempel von Roncesvalles haben wir uns schon im vorigen Jahr in unseren Pilgerausweis drücken lassen
Jetzt ist es 10.10 Uhr, voll Erwartung und mit frischen Kräften machen wir 13 Jakobspilger uns auf die
Wanderung. Ich finde den ersten Tag immer besonders schön, wenn ich den Rucksack auf den Rücken nehme und
mit den anderen in die unbekannte Welt hinausziehe, eine wundervolle Möglichkeit, Abstand zu gewinnen vom
Alltag. Es muss schon etwas Besonderes an diesem Weg sein, wenn auch heute immer wieder so viele Menschen
zum fernen Apostelgrab pilgern.
Schnell haben wir die gelben Pfeile des Camino entdeckt, mit Sternen und Muscheln werden sie in den nächsten
Tagen unsere Begleiter sein. Laubbäume säumen die schmale, asphaltierte Straße, die uns talabwärts nach
Burguete zurückführt. Auf der linken Seite der Straße finden wir das alte Pilgerkreuz, das Cruz de los
Peregrinos aus dem 14. Jahrhundert. Viele Pilger sind schon an ihm vorüber gezogen, was könnte dieses
verwitterte Steinkreuz alles erzählen!
Die Turmuhr schlägt gerade 11 Uhr, als wir in Burguete an der Kirche mit dem Brunnen vorbei gehen. Zu
beiden Seiten der Ortsstraße wird das Wasser (ein Bächlein?) zwischen Fahrbahn und schmalem Bürgersteig
in kleinen offenen, betonierten Rinnen geführt, für uns eine ungewohnte Möglichkeit, Wasser durch einen
Ort zu leiten. Auffallend schön sind die Hauseingänge des Ortes, Torbögen mit steinernen Wappen verziert,
einladend offene Haustüren, Blumenkübel vor den alten Steinhäusern.
Wir biegen in einen Feldweg ein, Viehweiden, Kühe mit Glocken wie in unserem Voralpenland. Wir müssen
Gatter öffnen und wieder schließen. Über dem fernen Wald liegt immer noch ein Nebelschleier, ohne
Regenkleidung geht es nicht. Wir überqueren kleine Bäche und durchwaten Pfützen. Toni streckt seine Hand
mit dem Wanderstab aus, so wie es Moses getan hat beim Zug der Israeliten durch das Rote Meer. Aber das
Wunder will heute nicht gelingen (wie im vorigen Jahr vor der verschlossenen Kapelle von l'Hopital).
Wir müssen die steinernen Stege oder die kleinen Holzbrücken benutzen, manchmal auch von einem dicken
Wackerstein zum anderen balancieren.
In Espinal bewundere ich wieder die geöffneten Haustüren, statt Vorgärten schmücken Blumenkübel die
Häuserfronten, alles sieht so sauber und freundlich aus. Hinter Espinal steigt der Weg an. Über einen
Hügelkamm mit schöner Fernsicht - Himmel - Weite - Wolken - Felder – erreichen wir die Höhe von Mezquiriz
(940 m). Beim Überqueren der C 135 treffen wir wieder auf die Jungfrau von Roncesvalles, eine mit Blumen
geschmückte Steintafel erinnert an sie. Unser Wanderpfad schlängelt sich nun durch den Wald. Wir müssen
eine Viehsperre passieren. Unsere zierliche Regina bleibt stecken, ihr Rucksack hängt fest. Schnell eilen
wir ihr zu Hilfe, bevor die wilden Tiere kommen, von denen der mittelalterliche Pilgerführer erzählt,
und sie auffressen.
Auf einem wunderschönen schmalen Pfad am Rande des Berges haben wir eine Begegnung ganz besonderer Art,
ganz ohne Begleitung kommen uns weidende Kühe entgegen, schauen uns staunend an und behaupten ihren
Trampelweg. Viel Buchsbaum wächst in dieser Gegend. Über einen dunklen Hohlweg kommen wir zu einem
neuen Plattenweg, der alte historische Pilgerpfad wird streckenweise ausgebessert. Diese neuen Wege
sind keine glückliche Lösung, eine Promenade, aber kein Pilgerweg. Der ursprüngliche Pfad, die Einfachheit
geht verloren. Gegen 13 Uhr ist Mittagspause. An einem steinigen Hang lassen wir uns nieder und packen
unsere Rucksäcke aus mit den letzten Vorräten von zu Hause. Gert und Walter machen uns Mut: „Der kleine
Ort hier vor uns, das muss Viscarret sein, 1/3 des Weges haben wir bereits zurückgelegt.“
Hinter Linzoain steigt der Weg zum Passo de Erro, den wir um 16.00 Uhr erreichen, Kiefern und Eichen zu
beiden Seiten des Weges, Buchsbaum und Ginster, Efeu schlängelt sich an den Bäumen hoch. Dort sollen auf
über 2 m großen Steinplatten die Schritte des riesenhaften fränkischen Helden Roland zu erkennen sein.
Sie fallen mir nicht auf, und ich verpasse es, danach zu suchen. Von hier geht es ständig abwärts ins
Tal des Rio Arga.
An einem Parkplatz mit großer Wanderkarte treffen wir auf die Landstraße und überqueren sie. Bald finden
wir auch das Wirtshaus am Gebirgspass - Venta del Puerto, auf das sich Bernhard schon eine Weile freut.
Leider kommen wir ein paar hundert Jahre zu spät, es war früher für Pilger und Wanderer Zuflucht und
Unterkunft in diesem einsamen Waldgebiet. Heute dient es nur noch als Kuhstall.
Der schwierigste Teil unserer heutigen Wanderung liegt nun vor uns, der Abstieg nach Zubiri im Rio-Arga-Tal.
Ausgewaschene Steinstufen, Felsspalten, Erosionsgräben, bizarre Steintreppen, Geröll, alles ziemlich
holperig, steil, schräg, rutschig und klitschig erfordert aufmerksames Gehen, ein Weg, der selbst drei
unserer geübtesten Wanderer „zu Fall“ bringt. Komischerweise macht mir dieser Abstieg richtig Spaß. Der
Weg ist interessant und abwechslungsreich, jeder Schritt ein kleines Abenteuer (ich wage es aber nicht
zu sagen, die anderen Jakobspilger halten mich glatt für einen Spinner).
Wir kommen nach Zubiri, zum Dorf an der Brücke, man nennt sie Tollwutbrücke. Die Reliquien der heiligen
Quiteria, im vorigen Jahr sind wir ihr in Aire sur l’Adour begegnet, die im mittleren Pfeiler begraben
liegen, sollen die Viehherden vor dieser Seuche bewahren.
Eine Rast am Ufer des Flüsschens, ein Photo von der alten Steinbrücke, die schon die Römer gebaut haben,
und wir beschließen, die restlichen Kilometer bis Larrasoaña noch zu laufen, obwohl wir hier unsere
Wanderung beenden könnten, denn eines unserer Autos steht an der Brücke von Zubiri. Manfred lockt uns
auf den Weg mit seiner Aussage, die Strecke sei „tendenziell fallend“. Gutgläubig wie wir sind, marschieren
wir vertrauensvoll weiter. Natürlich hat er Recht, trotzdem geht es ständig auf und ab, auf und ab und
will kein Ende nehmen. Eine große Magnesiumfabrik liegt am Weg, sie passt so garnicht in dieses schöne
Flusstal. Brombeerhecken wachsen am Wegesrand, herrlich reife Früchte locken zum Probieren. Ich mache
Wolfgang darauf aufmerksam, was sonst nie nötig ist, aber er sagt nur kurz und hart: „Nein!“ Oh weh,
wenn er diese Köstlichkeiten verschmäht, ist er wirklich geschafft.
Es ist 19.30 Uhr, wir sind in Larrasoaña an der Banditenbrücke. Straßenräuber trieben zu mittelalterlichen
Pilgerzeiten hier ihr Unwesen, daher der Name. An der San Nicolás-Kirche treffen wir unsere diensttuenden
Autofahrer, und ab geht die Fahrt nach Pamplona zu unserem Hotel, wo wir 2 Nächte verbringen werden.
Beatrix lotst uns souverän bis ins Zentrum, doch plötzlich fängt der Motor in Tonis Auto an zu stottern,
im dicksten Straßenverkehr von Pamplona bleibt er stehen! In Windeseile steigt Toni aus, schiebt und
lenkt das Auto mit unserem ganzen Gepäck und drei Insassen aus dem fließenden Verkehr zur Seite, die
saarländische Autokolonne fragend hinterher. Was tun? Einige nervenaufreibende neue Startversuche bringen
das Auto wieder zum Laufen, wir schaffen es bis zum Hotel, beziehen unsere Zimmer und verabreden uns für
21.00 Uhr zum Abendessen. 21.00 Uhr - Beatrix und Toni sind nicht da, sie sind mit dem Auto zum Tanken,
heißt es. Manfred bekommt einen Anruf: „Das Auto musste abgeschleppt werden, geht schon einmal ohne uns
zum Essen.“ Nach Studium einiger Speisekarten von Pamplona entschließen wir uns für ein China-Restaurant,
ohne Toni, Beatrix, Regina und Walter; schade! Beim Verlassen des Lokals treffen wir auf Beatrix, ihre
Nachricht: „Das vollbetankte Auto blieb wieder stehen, musste ein zweites Mal abgeschleppt werden und ist
nun in der Werkstatt. Morgen müssen wir ohne die 8338 auskommen.“
Es war ein anstrengender, aber auch ein schöner Tag, erlebnisreich, mit einer Fülle tiefer Eindrücke, mit
angenehmen und unangenehmen Überraschungen, bergauf und bergab, Sonne und Regen - genau wie das Leben.
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