Sonntag, 25.10.98 - Von Navarrenx nach St. Just, Olhaiby

Heute heißt es Abschied nehmen von unserem Hotel in Maslacq. Drei Nächte haben wir hier verbracht, das ist für Jakobspilger eine lange Zeit. Es war schön, 2 Tage mal keinen Koffer packen zu müssen. Um 7 Uhr neue Zeit treffen wir uns zum Frühstück, heute Nacht wurde die Uhr um 1 Stunde zurückgestellt, eigentlich wäre es ja schon 8 Uhr. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt es mir, ein trüber Tag ist im Anzug. Draußen ist es noch dunkel, die Autos sind nass, also heute wird es sicher eine Wanderung im Regen. Was soll's, Jakobspilger müssen hart im Nehmen sein!

Helga hat heute Morgen beim Frühstück einen Sonderwunsch. Wie wäre es mit einem weichen Ei? Gleich 4 Leute finden Geschmack daran, auch Walter wünscht sich ein Frühstücksei. Unsere Bedienung erfüllt die Wünsche ihrer Gäste, doch blubb, bei Walter fällt es auf den Boden. Wie konnte das passieren? Walter versucht, uns den Vorgang physikalisch zu erklären. Durch das Gesetz der Schwerkraft musste das Ei einfach auf den Boden fallen, eine andere Möglichkeit hatte es überhaupt nicht.

Um 8.15 ist alles gepackt und in den Autos verstaut. Wir fahren mit allen 4 Autos Richtung Navarrenx. Das Wetter ist regnerisch, trübe und unfreundlich. Entlang vieler Maisfelder geht die Fahrt über den Fluss Le Laa vorbei an zwei einsamen Eselchen, vereinzelten Gehöften, Büschen, Bäumen, einer Joggerin am Straßenrand. Gänsen, denen es im Regen auch nicht gefällt, aber das ist immer noch besser, als in den Konservendosen oder Bratpfannen der Region zu verschwinden. Es ist eine kurvenreiche Strecke, vorbei an der ehemaligen Zisterzienserabtei Sauvelade, dort, wo wir gestern zu Fuß vorbeigewandert sind. In Navarrenx steigen wir aus. Von hier werden alle Autos zum heutigen Ziel vorgefahren. Wir haben jetzt Zeit, bis Beatrix mit den Fahrern wieder zurückkommt. Sie wird heute nicht mitwandern; am Tagesziel wird sie uns erwarten.

Helga, Regina, Karin und ich sind auf der Suche nach einer Bäckerei. Ein Baguette, ein wenig Käse und noch einige Postkarten für die Daheimgebliebenen kaufen wir ein. Auf einem kleinen überdachten Parkplatz warten wir in zünftiger Regenkleidung auf die Rückkehr von Beatrix mit unseren Fahrern. Toni hat sich ein Autodach als Schreibpult ausgesucht zum Kartenschreiben. Obwohl es regnet, sind wir bei bester Laune. Wolfgang stimmt an, und laut und trotzig erklingt unser Lied: „Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht ….“ Auf dem Vorplatz die Kirche von Navarrenx erlebe ich die Landung des fliegenden Batmans – ganz in rot, die ich noch schnell per Foto festhalte. Mittlerweile ist es 10 Uhr geworden. Beatrix hat unsere Fahrer zurückgebracht. Wir machen uns auf die Socken, durch die Rue St. Antoine geht es in Richtung Stadtmauer. Wir verlassen die historische Stadt durch das mittelalterliche Tor, überqueren den Gave d’Oloron, dort wo seit 700 Jahren Jakobspilger den Fluss überschreiten. Der Wind bläst uns um die Ohren, es regnet in Strömen.

Wir haben beschlossen, heute dem offiziellen Pilgerweg streckenweise nicht zu folgen, da er sicher sehr aufgeweicht ist vom Regen und bedeutend weiter ist. Im Gänsemarsch pilgern wir über die Hauptstraße, farbenfroh getupft, dunkelblau, viel rot, hellblau, grün, mit Ponchos, Regenmantel oder buntem Schirm geht es Richtung Pyrenäen. Aber wo sind sie heute? Gestern haben wir am Horizont die Spitzen der Schneeberge erkennen können, heute ist alles düster und trübe. Es geht bergauf, bergab, über die Landstraße, durch den Wald, vorbei an Feldern und Wiesen. Die meisten Autofahrer hupen und winken uns freundlich zu. Es ist, als würde uns eine Aura des Besonderen umgeben, oder warum freuen sich alle, die uns sehen? Ich glaube, sie träumen auch davon, sich mit uns auf den Weg zu machen, einmal aus dem Alltag auszubrechen. Heute muss man genau hinschauen, unsere Jakobspilger sehen alle so ähnlich aus in ihrer Regenkleidung mit ihren Kapuzen. Man kann sie nur schlecht unterscheiden. Ich zähle plötzlich bis 13, nanu - es dürfen doch nur Zwölfe sein, Beatrix ist doch heute nicht bei uns. Irgend etwas stimmt nicht, was ist los? Beim Näher kommen sehe ich einen jungen Mann, der nicht zu unserer Gruppe gehört. Thibaud heißt er und kommt aus der Bretagne. Auch er ist unterwegs nach Compostela. Für heute hat er sich unserer Gruppe angeschlossen. Wir finden einen Unterstand, der uns vor dem Regen schützt und hören von Toni unsere längst fällige Meditation. Was liegt heute näher, Regen heißt das Thema: Wir müssen auch das annehmen, was wir nicht gewünscht haben. Auch Regen ist Leben, wir brauchen ihn. Auch das Unangenehme, das Unerwartete in unserem Leben hat seinen Sinn. Eigenartig, vorgestern hatten wir das Thema Sonne, heute das krasse Gegenteil Regen. Zwei Begriffe, die doch irgendwie zusammengehören, die sich ergänzen. An beiden Tagen habe ich den Bericht übernommen.

Wir marschieren weiter, es regnet immer noch. Thibaud erzählt uns von seiner bisherigen Wanderung. 25 bis 30 km geht er jeden Tag, abends übernachtet er in einer Gite. Er liebt die Einsamkeit des Wanderns, geht aber auch zeitweise gerne mit einer Gruppe. Anfang Dezember möchte er in Compostela sein. Er singt für uns ein französisches Lied, das er besonders mag: „0h prends mon âme, prends la seigneur ... „ Warum hat er nicht den Sommer gewählt, um den Jakobsweg zu erwandern? „Nein“, sagt er, „in den Sommerferien sind zu viele Leute unterwegs, die eine neue Tourismusmöglichkeit im Jakobsweg sehen, keine Pilger, die religiös motiviert sind. Im Herbst trifft man viel eher Gruppen, mit denen man sich verbunden fühlt, so wie die unsere.

Die Mittagszeit ist bereits überschritten. Wir haben Hunger und suchen eine trockene Bleibe zur Mittagsrast. Wir kommen an einem großen Hof vorbei und fragen eine Frau, die wir gerade treffen, ob wir in ihrer Scheune unsere Brote essen dürfen. Ich habe den Eindruck: sie sagt ziemlich unfreundlich nein, aber Thibaud klärt uns auf: „Sie wird ihren Mann fragen ob wir seine Werkstatt benutzen dürfen, dort ist mehr Platz.“ Und tatsächlich, sie kommt wieder mit einem Schlüssel und führt uns in einig große Halle. Wir sind überrascht vom Inventar: Kompressor, Hobelbank, Werkzeugkisten, Kübel in allen Größen, Fässer, Heizkörper, Leitern, stehend, hängend, liegend, aufgestapelte Bretter, Holzbearbeitungsmaschinen, Regale an den Wänden, alte ausrangierte Schränke mit allerhand Werkzeug. Das Herz eines Hobbyhandwerkers schlägt höher beim Anblick all dieser Herrlichkeiten. Es muss ein kreativer Mensch sein, der hier werkelt. An der Decke hängt ein Surfbrett, Bernhard macht uns aufmerksam auf einen Basketball-Korb. Toni probiert die Mütze des Hausherrn an. Regina entdeckt sogar Verbindungen zu unserer saarländischen Heimat - in der Ecke findet sie einen Schaltkasten der Firma Hager in St. Ingbert. Wir machen es uns bequem in der Halle. Manfred lässt sich auf einer Werkzeugkiste nieder, Regina sitzt auf einem Hocker, Edgar und Helga thronen auf einem Stapel Holzbretter, Karolin und Toni haben einen Stuhl ergattert, Bettina, Karin und Bernhard hocken auf einer Bank, Thibaud benutzt die Stufen einer Leiter als Sitzgelegenheit, Wolfgang und ich haben auf der Ladefläche eines 2 CV Platz genommen. Wir lassen uns unsere Brote, unser Obst schmecken und sind froh, für die Mittagspause ein trockenes Plätzchen gefunden zu haben. Als Nachtisch teilt Thibaud seine Schokolade mit uns. Walter sammelt unseren Abfall ein.

Wir müssen unsere wetterfeste Kleidung wieder anziehen, es regnet immer noch, wir wandern weiter. Regina, Manfred und Thibaud sind an der Spitze. Ich höre vereinzelte Töne vom gemeinsam gesungenen Salve Regina. So muss es auch im Mittelalter gewesen sein, als sich viele verschiedene Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten, aus aller Herren Länder auf dem Jakobsweg getroffen haben. Komisch, es ist nicht möglich, diesen Weg nur in der Gegenwart zu sehen, immer wieder gehen die Gedanken in die Vergangenheit.

Wir beten den freudenreichen Rosenkranz. Langsam lässt der Regen nach. Sogar die Pyrenäen können wir wieder erkennen. Durch den Regen sind die Wege aufgeweicht, das Gehen manchmal eine rutschige Angelegenheit, schwere Klumpen hängen an den nassen Schuhen.

Wir überqueren den Gave de Mauléon oder Saison, der hier die Grenze bildet vom Béarn zum Baskenland - zu Euskadi. Die Ortsnamen auf den Straßenschildern in baskischer Sprache sind sehr schwer zu lesen und klingen fremd für unsere Ohren.

Um 15.00 Uhr wollte Beatrix am Château Joantho sein, um die müden Wanderer unter uns abzuholen. Aber alle sind fit und wollen weiter zu Fuß laufen. Wir wandern durch Aroué, nur noch ein kurzer Besuch der Dorfkirche St. Etienne. „Ein Haus voll Glorie schaue“ singen wir gemeinsam. Bernhard lässt mit seiner Gruppe das „Laudate omnes gentes“ und das Taizé-Halleluja erklingen. Ich greife zu meinem Rucksack, den ich in einer Ecke der Kirche abgestellt habe, plötzlich geht mir ein Licht auf: Als wir heute Morgen in Navarrenx auf die Rückkehr von Beatrix und den Fahrern warteten, gab es etliche Leute in meiner Umgebung, die von einem ganz besonderen Duft umgeben waren. Ich wich aus, aber eigenartigerweise schienen auch noch andere das gleiche gegessen zu haben, immer wieder dieser Duft! Jetzt wusste ich, wo er herkam. Ich habe in meinem Rucksack einen überreifen Camembert - er war der Schuldige! Karolin gesteht mir, dass sie heute Morgen um mich auch einen Bogen gemacht hat.

An einem alten, verwitterten Holzkreuz hinter Aroué biegt ein Weg ab, dort verabschiedet sich Thibaud von uns. Wir wünschen ihm Gottes Segen für seinen weiten Weg nach Compostela.

Es geht leicht abwärts, am Himmel sind wieder kleine blaue Lichtblicke zu erkennen, das Wetter bessert sich. Um 16.30 Uhr sind wir am Ziel, am romanischen Kirchlein St. Just von Olhaiby. Wir werden schon von Beatrix erwartet, die uns mit Getränken versorgt. Picknick auf dem Friedhof, der zur Kirche gehört, auch etwas ganz Neues, was man nur auf dem Jakobsweg erleben kann.

Mit unseren Autos fahren wir zu unserem neuen Hotel in St. Palais. Zum Abendessen treffen wir uns wieder, es wird ein lustiger Abend! Wir stellen mit Erstaunen fest, dass Manfred leidenschaftlich gerne Gemüsesuppe isst. Um als höflicher Mensch nicht nach dem ersten Schöpflöffel „danke, es genügt“ sagen zu müssen, schaut er diskret zur Seite und unterhält sich angeregt mit Karolin, derweil wird sein Teller voll und völler. Ganz ungläubig schaut Madame Manfred an, mehr kriegt sie nicht in den Teller, soll sie noch einen zweiten holen? Ich vertilge mit Todesverachtung die Seeungeheuer, die uns Beatrix servieren ließ.

Walter kann sich nicht entscheiden, welchen Nachtisch er heute nimmt, meine Crème Caramelle, von der er schon ein wenig gekostet hat, oder seine Birne Charlotte, die ich nicht mehr hergeben will. Edgar erzählt etwas von einem Postrat mit einem gelben Fahrrad. Irgendwer verrät uns, dass sich in unserer Gruppe ein Feldmarschall befindet. Wer kann das wohl sein? Beatrix erzählt von „une tomate, due tomate“. Wen von uns meint sie wohl damit? Plötzlich ein Schrei von Karolin: „Ich habe Rudi vergessen, er wartet auf meinen Anruf!“ Schnell packt sie ihre Sachen und will zum Telefon verschwinden. Aber nicht doch, Karolin, diese Tür mit den schönen Schnitzereien führt in den Garderobeschrank; mit dem Kopf durch die Wand  das schafft auch ein Jakobspilger nicht! Gleich nebenan ist der Ausgang!

Sehr müde falle ich schließlich im Hotel de la Paix in ein altehrwürdiges Bett. Auch ein Regentag ist erlebnisreich und hat seine schönen Seiten.

Brigitte

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