Donnerstag, 22.10.1998 - Von der Kirche von Sensacq nach Uzan (ca. 30 km)

Sollte der heutige Tag ein Motto haben, so müsste es Begegnungen lauten. Kein anderer Tag unserer vierjährigen Wanderung war so sehr von Begegnungen geprägt.

Zunächst ist es aber einmal der Tag, an dem Manfred und Bettina 77 Jahre werden. Manfred hat wieder einmal mit einem Sektfrühstück für einen markanten Auftakt gesorgt. Trotzdem schaffen wir es, schon um 9 Uhr das gastliche Haus in Aire zu verlassen, das Haus, das Hans Aebli in seinem Buch zu dem Ausspruch veranlasst hat: „La douce France!“ Wir stimmen da vorbehaltlos zu. Beatrix müssen wir freilich krank zurücklassen. Aber unser Wirt beruhigt uns, dass der Arzt schon bestellt sei. Kurz vor 10 erreichen wir mit den Autos die Kirche von Sensacq, wie in den Vortagen haben wir bestes Wanderwetter.

Tonis Meditation geht heute über Spuren. Wir tragen uns noch schnell in das ausliegende Buch ein und schon sind wir wieder auf dem Weg. Wie so häufig bleibt mir kaum Zeit, noch ein paar Aufnahmen zu machen. Die anderen scheinen nichts im Sinn zu haben, als jenen ersten Anstieg so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Hinterher hetzend beobachte ich Bettina im Gespräch mit der alten Frau mit dem Reisigbesen. Ein wenig von der freundlichen Verabschiedung bekomme ich auch noch ab. Gegenüber schauen die Esel zu! Schon kurz vor 11 winkt die Kirche von Pimbo herüber, ein kleines Schild lädt uns ein, sie zu besuchen. Wir genießen zunächst den Blick zu den beträchtlich näher gerückten Pyrenäen und leisten uns dann den Abstecher. Die markanten Umrisse einer romanischen Wehrkirche sind zu verlockend! Das Portal mit seinen Reliefplatten fordert zum Fotografieren auf, aber auch die Spezialisten schaffen es nicht, die Tür zu öffnen. Da gibt es eine Dame, die Manfred zu einem Haus am 1 km entfernten Friedhof von Pimbo schickt, was nicht nur erfolglos, sondern zudem überflüssig war, denn inzwischen sind wir schon drin. Das Innere hält bei weitem nicht, was das Äußere versprochen hat und außer einer guten Akustik ist da kaum etwas Nennenswertes zu vermerken.

Entschlossen machen wir uns auf den Weg ins Tal hinab. Wir überqueren den Gabas-Bach und betreten damit das Département Pyrénées Atlantiques. Es beginnt ein munteres Ab und Auf, die Straße stets gesäumt mit Maisstauden. Beim nächsten Gehöft interessieren sich drei nette Damen für unseren Weg. Sie gestatten Brigitte großzügigen Zugriff auf ihre Blumen, einem kleinen Plausch überhaupt nicht abgeneigt. Als vierter im Bunde gesellt sich der freundliche Postbote hinzu, ohne dabei aus seinem Dienstwagen auszusteigen. Zu unserer Verblüffung zaubert er Wanderprospekte für unsere ganze Gruppe hervor und macht sich ohne große Umstände wieder auf die Achse. Offenbar hatte die Post ohnehin ihren großen Tag: Später in Arzacq erspart der Kollege unserem Edgar sogar den Weg zum Briefkasten.

Beim Bauernhof Loustaou finden wir zwar die Angabe '924 km bis Santiago' aber kein trinkbares Wasser. Trotzdem bewundern wir den schön angelegten Brunnen. Der Weg steigt nun steil an und mündet bei einem schlossähnlichen Gebäude, ein kleiner Park umgibt es, auf die D32. Weil wir so gut drauf sind, machen wir gleich noch einen ordentlichen Umweg. Irgendwann - es ist gegen 13 Uhr - erklimmen wir auch den Hügel, auf dem Arzacq liegt. Wir treffen uns alle an der Kirche, wo es auch die wohlverdiente Mittagsrast gibt. Den Abschluss bilden ein paar Gesänge in der offensichtlich gut gepflegten Kirche. Erstmals gelingt es, Jesus remember me vierstimmig zu singen. Gut Walter!

Gegen 14 Uhr soll es weitergehen und wir suchen zunächst den „Einstieg“. Wir finden einen richtigen Jakobsweg. In der Zwischenzeit ist Brigitte noch eifrig auf Wassersuche, eine vernünftige Vorsorge bei der Hitze des heutigen Tages. Sie wird fündig an einer Tankstelle, wo - wer konnte so etwas ahnen - Beatrix später unsere Spur aufnehmen sollte!

Die erste Abkürzung, zu der wir uns entschlossen hatten, funktioniert perfekt. Die zweite lassen wir lieber sein und gehen stattdessen um den See herum, unterhalten uns mit den Pferden und steigen bei ordentlicher Hitze die Hügel rauf und runter. Es geht bald wieder durch ein schönes Tal über den Bach Luy de France, an einer Mühle vorbei. In Louvigny, an einer kleinen Kirche versammelt sich die Mannschaft wieder. Es ist immer noch sehr heiß. Wir verlassen die Landstraße und steigen über einen Wiesenpfad zur Anhöhe nach Lou-Castet hoch. Es sind nur wenige Häuser. Eine Frau mit einem lieben Hund muntert mit ihren freundlichen Worten die ins Schwitzen gekommenen Pilger wieder auf. Ein paar Meter weiter versorgt uns ein Pensionär nicht nur mit lebensspendendem Wasser und mit der Adresse jener alten Dame von St.-Jean-Pied-de- Port, sondern auch mit Hinweisen auf die neue Wegführung. Nützen sollte das uns nichts.

Denn da treffen wir am Hof Moundy die Bäuerin, die uns ohne Zögern nach links schickt, wo Manfred und ich nach rechts wollen. Das Ergebnis könnte man bei Jesaja nachlesen: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe“ (es gibt über dieses Wort einen Chorsatz von Melchior Franck, den wir für das kommende Jahr sicherheitshalber einstudieren sollten). Hätten wir nicht die Esel, denen wir kurz vorher begegneten als Hinweis, als Omen nehmen müssen?

Dafür bringen uns aber liebe Menschen wieder auf den Weg. Nach anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten - so eine Landkarte ist nicht jedermanns Sache - können uns die Maisbauern, die wir vor einem Schuppen bei ihrer Arbeit antreffen, dann doch klar machen, dass wir nicht dort waren, wo wir zu sein glaubten. Manfred entschlüsselt mit fast detektivischem Spürsinn schließlich die Angaben unserer freundlichen Ratgeber und stellt fest: „wir sind nicht mehr auf unserer Karte drauf!“

Das kann uns zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr erschüttern, denn wir liegen ohnehin alle flach. Nachdem wir uns mit dem uns angebotenen Wasser gestärkt haben geht es erneut frisch (mehr oder weniger) voran. Zweifellos ein schöner Weg: noch einmal, zweimal auf die nächste Höhe hinauf, mit weitem Blick über die Hügel, die wir schon gemeistert haben; durch ein belebend schattiges Tälchen. Noch ein letzter steiler Anstieg, und wir erreichen den Ortseingang von Fichoue-Riumayou.

Ich bin mit Karin wieder am Ende der Pilgerschar. Von links kommt ein alter Mann auf uns zu. Während ich weitergehe, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verpassen, die gerade um eine Häuserecke verschwindet, bleibt Karin stehen. Zurückblickend sehe ich, dass sie sich die beiden angeregt unterhalten - ich frage mich eher unbewusst, in welcher Sprache. Später erzählte mir Karin, er habe nach dem Woher und Wohin gefragt und ihr dann genau den Weg erklärt Sie kann mir nicht sagen, wie sie sich verständlich gemacht hatten.

An der nächsten Ecke angekommen stelle ich fest, dass alle bei der schönen kleinen Dorfkirche Halt gemacht haben. Einige sind schon drinnen, andere draußen. Von innen tönt bereits Gesang und ich habe das Gefühl, meine Stimme hinzutun. Den anderen scheint es ähnlich zu gehen - oder bilde ich mir das nur ein! Es scheint mir ein ganz besonderer, fast möchte ich sagen, magischer Moment. Jeder, der dazu kam fügte seine Stimme hinzu als müssten alle so von Herzen ihrer Dankbarkeit Ausdruck geben, dass wir wieder auf unsere Landkarte, in sozusagen gesicherte Gefilde, zurückgefunden haben.

Kraft geschöpft haben wir in jedem Fall! Flott wandern wir anschließend über die Landstraße weitere 3 km ins Tal, genießen den schon fast abendlichen Blick auf die Pyrenäen und machen uns nebenbei klar, dass am Ende des heutigen Tages die km-Leistung auf 30 zugehen würde. Unten im Tal, am Ortsausgang von Larreule wartet Beatrix, die Gute, aber keiner scheint auch nur einen Moment daran zu denken, das bequeme Auto für die letzten Kilometer zu nehmen.

Von Larreule geht es noch einmal ins Tal hinaus, noch ca. 4 km. Wir überqueren den Luy de Bearn und noch einmal geht es über eine Höhe - rechts eine große Gänsefarm, weiter vorne wieder Maisfelder! Wir kommen noch durch ein schmuckes Gehöft mit südlichem Flair, dann geht es wieder bergab. Irgendwann, genauer gesagt um 17.45 Uhr, taucht die Kirche von Uzan vor uns auf. Beatrix ist da; wir sind am Ziel. Doch der Tag der Begegnungen ist noch nicht zu Ende. Die Autos müssen beigeholt, der Weg nach Sensacq noch einmal aufgespürt werden. Schon in Larreule stehen wir ratlos auf der Kreuzung: wo ist der nächste Weg nach Arzacq? Ein Bauer, mit Riesentraktor und Anhänger, blockiert die Kreuzung noch zusätzlich, kommt zu uns ans Auto gestiefelt und erklärt uns geduldig den besten Weg. Die anderen müssen warten. Beatrix erzählt uns, dass sie den lieben Zeitgenossen am Nachmittag schon einmal interviewt hatte, wie ein Dutzend andere. So habe sie auch die Tankstelle gefunden, an der Brigitte Wasser geholt habe, wodurch sie unserem Schicksal auf die Spur gekommen sei.

Bald schon macht sich über den Pyrenäen ein beeindruckendes Abendrot breit. Als wir Pimbo passieren ist es schon dunkel. Die Autos stehen so richtig einsam in der Landschaft, vor der kleinen Kirche: Hoffentlich finde ich bei Karolins Audi den Schalter für das Licht! Schnell geht es zurück. Von Arzacq aus fährt Beatrix voraus. Geradezu traumhaft kennt sie den Weg, als wäre sie hier groß geworden. Die Wartenden haben sich von der schönen Wiese in die Kirche zurückgezogen, da es ganz plötzlich kalt geworden ist. Nun müssen wir nur noch nach Maslacq. Gutes Essen und ein warmes Bad, das wäre die Krönung! Dann müssen wir in der Dunkelheit noch das Hotel finden. Aber das ist eine der leichteren Aufgaben des heutigen Tages.

Bernhard

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