Freitag, 23.10.1998 - Von Uzan nach Maslacq
Im Zimmer nebenan Wasserrauschen, Schnarchen im Bett neben mir, ein Gongschlag der Kirchenuhr
6.30 Uhr. Ich erwache in einem Hotel in Maslacq, ich habe es übernommen, den Tagesbericht für
heute zu schreiben, das ist mein erster Gedanke. Also heute muss ich aufmerksamer leben, genauer
hinschauen und notieren, was mir erwähnenswert erscheint.
Zuvor wecke ich Wolfgang, dann gehe ich noch schnell vor dem Frühstück zum Einkaufen, Brot, etwas
Käse, Grauwurst, Bananen, Wasser füllen wir aus der Leitung ab. Viel brauchen wir nicht auf unserer
Wanderung tagsüber, aber das wenige, das wir brauchen, ist wichtiger als sonst. Selbst Schuhe,
Rucksack, Wasserflasche haben eine besondere Bedeutung.
Ich treffe Walter. Auch er ist unterwegs zum Einkaufen und auf der Suche nach Reginas ärmelloser
Jacke. „Wo hat sie das Ding nur liegen lassen?“ Sie ist unauffindbar.
Ein wunderschöner, sonniger Morgen begrüßt uns, ein Bilderbuchtag kündigt sich an. Nach dem Frühstück
findet Wolfgang Reginas Jacke in unserem Auto, die Welt ist wieder in Ordnung. Mit drei Autos fahren
wir zum Ausgangspunkt unserer heutigen Wanderung, zum Kirchlein von Uzan, das der hl. Quitterie von
Aire geweiht ist. Wir haben es bereits kennengelernt, dort haben wir gestern Abend unsere Wanderung
beendet und sind mit den Autos nach Maslacq gefahren.
Frohgemut und beschwingt beginnen wir unsere Wanderung, natürlich nicht, ohne vorher die Zähne zu
putzen. Voll Freude und Lebendigkeit singen wir unser Lied: „Wenn die bunten Fahnen wehen ...“ Was
ist heute Morgen nur los? Mir scheint, alle sind besonders gut gelaunt. Ich spüre auch bei meinen
anderen Weggefährten die Freude am Augenblick, die Lust am Leben. Hat ein sonniger Tag eine solch
starke Wirkung auf uns? Kann Freude so ansteckend sein, dass sie gleichzeitig die ganze Gruppe
erfasst? Es ist unglaublich schön, so in den Morgen zu gehen und alle Zeit der Welt zu haben. Wir
genießen es, auf uralten Pilgerwegen der Sonne zu folgen. Alle Mühen, Sorgen und Probleme des Alltags
bleiben weit zurück. Dieser Morgen ist für uns alle ein unverhofftes Geschenk
Wir überqueren einen kleinen Nebenfluss des Luy de Béarn (Aygouelonge) und kommen nach Géus zur
Kirche, dort hören wir von Toni unsere morgendliche Meditation, und - wie könnte es anders sein
er hat die Sonne als Thema gewählt: Die Sonne verwandelt, schafft neues Leben (er ist also auch
„angesteckt“). Wir spüren und erleben es, sie hat auch uns heute Morgen verwandelt, uns ein sonniges
Gemüt geschenkt. Aus voller Überzeugung singen wir dankbar unser Morgengebet: „Singt dem Herrn ein
neues Lied.“
Vorbei an Kakteen und Palmen führt uns der Weg durch den kleinen Ort. Die Gruppe zieht sich auseinander,
die Stimmung pendelt sich ein, man kann nicht immer vor Glück strahlen, ein ruhiges, gelassenes Gehen.
Ein schmaler Weg führt uns durch endlos scheinende Maisfelder, die uns schon einige Tage begleiten.
Wir sind im Béarn. Wir biegen in einen Farnweg ein, einzelne Bäume, vorbei an einem alten Sägewerk,
und immer wieder werden wir schwanzwedelnd oder bellend von Hunden begrüßt. Wir überqueren die D 945,
ein steiler Anstieg bringt uns heute zum ersten Mal ins Schwitzen. Wir erreichen den kleinen Ort auf
der Höhe Castillon. In der Kirche des Ortes sind Leute mit Renovierungsarbeiten beschäftigt, und sie
erzählen uns, dass Anfang des Jahres ein Erdbeben Risse im Kircheninnern verursacht habe. Auf dem
kleinen Friedhof direkt bei der Kirche gibt es frisches Wasser. Wir füllen unsere Wasserflaschen wieder
auf, und es ist erfrischend, auch die Arme unter den kalten Wasserstrahl zu halten. Nach einer kurzen
Rast verlassen wir Kirche und Friedhof und wandern weiter, vereinzelte Bauernhöfe, Stille und Einsamkeit,
mal in der Ferne weidende Herden, eine brüllende Kuh und immer wieder Hunde an der Strecke. Es geht
wieder leicht bergauf.
Wir biegen ab zur romanischen Kapelle von Caubin. Diese Kapelle wurde nach der Rückkehr von einem
Kreuzzug für die Jakobspilger gestiftet. Seit langem finden wir mal wieder Spuren der mittelalterlichen
Pilgerfahrt. Die Marienkapelle, eine Mariensäule mit Jakobsmuschel und ein wunderschöner, riesengroßer,
grober Naturstein-Tisch und Bänke laden ein zur fröhlichen Tafelrunde.
Eine große, schlanke Palme steht am Eingang zum Kirchlein. Ein gefallener Ritter hat hier seine letzte
Ruhestätte gefunden in einem von Steingerank übersponnenen Grab.
Wir genießen die Mittagspause, die schöne Landschaft, den Sonnentag. In der Kirche verabschieden wir
uns mit einem Lied von der Madonna von Caubin.
Weiter geht die Wanderung Richtung Arthez. Ein Wohnhaus an der Straße fällt uns auf, dort muss ein
Kollege von Karin und Bernhard wohnen. Ein Notenschlüssel, der nicht zu übersehen ist, erzählt,
welches Hobby die Bewohner pflegen. In Arthez besichtigen wir die Kirche und machen eine kurze Rast
seitlich von der Kirche, mit einem herrlichen Blick ins weite Land, Richtung Pyrenäen, wir können sie
erkennen. Helga bringt mir drei verschieden farbige Röschen für mein Album; wo hat sie die nur entdeckt?
„Nein, Regina, zum Kaffeetrinken reicht die Zeit nicht, Jakobspilger müssen bescheiden leben (wenn auch
nur tagsüber)! Zum Verweilen bleibt keine Zeit.“
Wir durchqueren den Ort, lang zieht sich der Weg durch das Städtchen, eine Asphaltstraße, die nicht
enden will. Die Mittagssonne brennt. Ein angenehm erfrischender Wind weht uns entgegen und zerzaust
die Haare. Ich glaube für einen Moment, er schmeckt nach Atlantik, oder ist es Regen, der im Anzug ist?
Endlich biegt ein Feldweg ab. Einer einladenden Mauer können wir nicht widerstehen, eine Erfrischungspause
wird eingelegt, und irgendwer stimmt das Lied an: „Wasser ist zum Waschen da, vallerie und vallera“.
Ja, wie wohltuend und köstlich ein einfacher Schluck Wasser aus der Flasche ist, kann man nur erleben,
wenn man durstig unterwegs ist und nichts anderes zum Trinken hat. Manfred geht etwas voraus, um zu
erkunden, ob es die Abzweigung ist, die in unserem Pilgerführer beschrieben ist. Der Weg sieht etwas
wild und zugewachsen aus, aber wir wagen es, die Abkürzung zu nehmen, um die Landstraße ein Stück zu
umgehen.
Wir beten gemeinsam den Rosenkranz, wie jeden Nachmittag auf unserer Wanderung. Am Himmel ziehen dunkle
Wolken auf; ob wir es noch schaffen bis Maslacq ohne Regen? Wir nehmen das letzte Wegstück unter die Füße,
das große Gebirge, das ferne Ziel vor Augen. Immer wieder geht es durch Maisfelder, bunte Tupfer von
Herbstzeitlosen am Wegesrand, eine Schaukel, extra für Beatrix aufgestellt! Wir erreichen die Landstraße
und entdecken ein Straßenschild: Maslacq 2 km. Auf einer langen Brücke überqueren wir die Eisenbahn, den
Gave de Pau und die Pyrenäenautobahn. Mit ihren Wanderstöcken geben meine Jakobsschwestern und -brüder
am Eisengeländer der Brücke ein ganz besonderes Konzert, und zum ersten Mal bedauere ich, dass ich
„stocklos“ bin.
Gegen 16.30 Uhr kommen wir in unserem Hotel in Maslacq an. Karolin, Walter, Manfred und Wolfgang
fahren in Walters Auto zurück zum Ausgangspunkt unserer heutigen Wanderung, um die anderen Autos
nachzuholen. Jetzt habe ich viel Zeit für mich. Eine Dusche nach so einem langen, heißen Wandertag
ist eine unbeschreibliche Köstlichkeit, und ich denke an die mittelalterlichen Jakobspilger, die
ohne all den Komfort auskommen mussten, den wir heute selbst dann brauchen, wenn wir so landstreichermäßig
unterwegs sind. Zum Abendessen treffen wir uns alle wieder. Es gibt ein gutes Essen, Wein, ein Abend
in fröhlicher Runde. Es war wieder ein schöner Tag, und ich wünsche mir, diese Wanderung möge so schnell
nicht enden!
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