Dienstag, 27.10.1998 –
Von Utxiat nach St. Jean Pied de Port und zur Höhe 620m über Honto

Frühstück um 8 Uhr! Unser Chef hat bereits gestern Abend das nicht unkomplizierte Rangieren der Autos bis ins kleinste festgelegt. Schon um 7.45 Uhr ist (fast) das ganze Gepäck verladen. Karin hat in der Nacht geträumt, dass ein „Berg zu sparen“ sei und nun rätseln die Experten, wie denn das wieder zu deuten sei. Zunächst aber sparen wir erst einmal die morgendliche Meditation, da die Dorfkirche - pilgerunfreundlich- geschlossen ist. Die 3 km bis zu unserem heutigen Ausgangspunkt Utxiat, die gestern einige stellvertretend bei strömendem Regen gelaufen sind, werden jetzt problemlos mit den Autos bewältigt.

Während die Hauptgruppe von dort sofort startet, fahren Beatrix, Manfred, Walter und ich die Autos nach St. Jean vor. Wir genießen die Fahrt! Die Pyrenäentäler sind noch vom Frühnebel bedeckt und die Sonne sendet gerade die ersten Strahlen hindurch. In St. Jean finden wir schnell einen günstigen Parkplatz, direkt am Hotel Central. Das Städtchen macht schon auf den ersten Blick einen ganz und gar properen Eindruck.

Auf dem Rückweg unterhalten wir uns so angeregt über die vielfältigen Eindrücke unserer Fahrt, dass wir ganz überrascht sind, als vor uns, in einer Kurve der Landstraße sich zu der kleinen Anhöhe hochwindend, eine Pilgerschlange auftaucht. Erst als Beatrix aufschreit „da wollte ich doch mit!“ wird mir richtig klar, es sind ja die Unseren. Ein eigenartiger, total überraschender Anblick, so eine Wandergruppe, die die Hauptstraße entlangzieht! Beatrix steigt aus und wir fahren weiter zu unserem Ausgangspunkt Utxiat. Lächerlich klein scheint mir die Strecke, die wir aufzuholen haben.

Flott stürmen wir los und erreichen um 9.15 Uhr die Stelle, an der wir vorhin unsere Gruppe getroffen haben. Zum zweiten Mal an diesem Morgen eröffnet sich uns am höchsten Punkt der Straße der unvergleichliche Blick zu den Pyrenäen. Jetzt, zu Fuß, stelle ich viel bewusster fest, wir sind eigentlich schon mittendrin. Wir nehmen den Weg links nach Gamarthe, wo wir an der Kirche die anderen treffen wollen. Das hübsche Bergdorf liegt nach der nächsten Kurve zu unseren Füßen, die Spitze des kleinen Kirchturms ist links gerade noch zu sehen. Aber Edgar wartet schon auf uns an der Kreuzung, so dass wir die Freunde nicht verfehlen können. Um 10 Uhr sind wir dort. Die Kirche ist so sauber und aus dem Ei gepellt, wie der ganze Ort. Die „Herrin des Hauses“ wohnt in einem schnuckeligen Häuschen direkt neben der Kirche. Sie begutachtet uns schon beim Anmarsch, scheint aber ganz zufrieden mit uns.

Beim Eintreten in den kleinen Kirchenraum bemerke ich sofort die Doppelempore, wie sie im Baskenland üblich ist. Tonis Besinnung führt uns über und zu Brücken, zu Bildern, die uns nach einer Pilgerwoche vollkommen vertraut sind. Wir haben das alles erlebt.

Anschließend gibt es noch ein munteres Geplauder mit der ursprünglich so besorgten Küsterin. Als Toni sie schließlich noch mit den Feinheiten des Zähneputzes nach Pilgerart vertraut macht, wird ihr Verhalten immer aufgeräumter. Jetzt freut sie sich, uns getroffen zu haben. Gegen 10.30 Uhr lassen wir das Bilderbuchdorf hinter uns. Die Berge umschließen uns immer enger. Der Weg führt über die Bauernhöfe Biscaya und Larraldeborda. Danach steigt der Weg an und macht den Blick frei hinüber zu dem Renaissance-Schloss von Lacarre. Mehrmals kommen wir an Schafherden vorbei - eine andere Rasse, als wir gewohnt sind. Schließlich erreichen wir über eine Teerstraße ansteigend einen kleinen Pass, wo wir erst einmal rasten und den Ausblick genießen (11.45 Uhr). Der Weg verläuft, anders als auf der Karte angegeben, über Bussunarits. Immer wieder fallen uns die Blumenpracht und die schmucken Häuser auf. Schließlich mündet unser Weg in Saint-Jean-le-Vieux wieder in die Hauptverkehrsstraße. An der Kreuzung, im Zentrum steht die Kirche Saint Oierre, die ihr eindrucksvolles romanisches Portal aus dem 12. Jahrhundert bewahrt hat. Dahinter ein Eingang, den man fast als Durchschlupf bezeichnen muss. Er gibt den Blick frei in einen äußerst gepflegten Kirchenraum, erneut mit doppelter Empore.

Wir jedoch suchen zunächst einen Rastplatz, denn es geht bereits auf 14 Uhr zu. Direkt hinter der Durchgangsstraße finden wir am Dorfplatz ein Unterkommen auf den Stühlen der Bar Sotuna, wo wir uns mit Getränken des Hauses verwöhnen lassen und aus dem Rucksack unseren Hunger stillen. Bei so schönem Wetter: Pilgerherz, was willst du mehr!

So gestärkt geht es weiter und Toni macht auch wieder mit dem Pilgern ernst: der Rosenkranz wird gebetet, was immer auch den angenehmen Nebeneffekt hat, dass wir stets ein gutes Stück vorankommen. Wir überqueren kurze Zeit später wieder die Verkehrsstraße und folgen auf der anderen Seite einer schönen Allee, die zu der romantisch am Fluss gelegenen Kirche von La Madeleine führt. Jetzt geht es fast ununterbrochen durch Vorortsiedlungen. Ich bewundere schmucke Häuser und besonders die typischen Baskenhäuser mit Fachwerk und unregelmäßigen Giebeln.

Durch das Jakobstor - wir erreichen es recht umständlich über Treppen, wollten es aber unbedingt als Zugang zur Stadt benutzen - ziehen wir in das Städtchen Saint Jean Pied de Port hinab. Altstadt mit gepflasterten Gassen, Pilgerhospiz, Jakobsbrünnchen, Stadtmauer, ein wenig Tourismus sind die ersten Eindrücke. Um 14.50 Uhr erreichen wir unsere Autos und sind damit direkt am Hotel.

Tonis Managerqualitäten werden erneut deutlich, denn schnell hat er die Aufgaben verteilt. Manfred und Wolfgang holen das in Utxiat zurückgelassene Auto. Walter und ich sollen einen Punkt am Berg finden, zu dem wir heute noch laufen wollen, um die morgige Bergetappe in die Pyrenäen, nach Roncesvalles zu verkürzen. Da ich ahne, dass das nicht so einfach sein wird, bitte ich Karolin zu fahren und setze mich mit Karte und Wegbeschreibung daneben. Walter folgt uns mit seinem Auto.

Die alte Route Napoleon ist schnell gefunden. Die alte Fahrstraße führt gleich steil aufwärts, schlängelt sich aber bald recht gemütlich über einen Höhenrücken. Die Sonne lässt schon den herannahenden Abend ahnen, strahlt aber noch voll und vermittelt uns ein geradezu märchenhaftes Bergpanorama. Für die Orientierung gibt es fast keine Anhaltspunkte. Weder stimmen die Namen auf der Karte mit den Namen, die wir an verschiedenen Gehöften lesen überein, noch sind die auf der Karte so eindeutig eingezeichneten Wegekreuzungen auf die Schnelle zu finden. Keine Spur von dem „Ort“ Honto, den wir suchen. Mein Höhenmesser zeigt schon über 600 Meter, als wir an der Spitze einer engen Kurve einen Platz finden wo wir anhalten, um uns zu beraten. Walter meint, wir sind schon 6 km gefahren, müssten eigentlich den Bauernhof schon hinter uns haben. Wir beschließen dennoch, etwas weiter zu fahren, um eindeutigere Hinweise zu erhalten. Bei Höhermeter 900 stoßen wir auf eine Abzweigung des markierten Weges. Das ist beruhigend, aber wir sind eindeutig viel zu weit oben. Wir stoppen einen Bauer, der auf seinem Traktor herankommt. Eine große Hilfe ist er uns nicht. Wie bei anderen Gelegenheiten, müssen wir wieder feststellen, dass das Kartenlesen nicht gerade eine Stärke der Einheimischen ist. Viel bekommen wir nicht aus ihm heraus. Er meint, dass wir bis zum letzten Haus zurückfahren müssen. Schon als wir losfahren wissen wir, dass wir angesichts der fortschreitenden Zeit eine schnelle Entscheidung treffen müssen, die unsere Unternehmung auf sichere Beine stellt. Wir beschließen, zu unserem Halteplatz auf Höhenmeter 620 zurückzufahren und das Auto dort abzustellen. Nach meiner Schätzung müsste der Punkt in zwei Stunden erreichbar sein. Darüber hinaus ist es notwendig, die Fahrstraße, die alte Route Napoleon und nicht den Wanderweg zu benützen um sicher zu sein, die Stelle auch noch nach Einbruch der Dunkelheit finden zu können. Dass wir mit der Route Napoleon im Grunde den historischen Pilgerweg benutzen werden, tröstet uns sehr.

Um 16.15 brechen wir vom Hotel auf. Wir haben die Freunde vor vollendete Tatsachen stellen müssen und sie haben sich mehr oder weniger gut damit abgefunden .

In gebotener Langsamkeit, aber überraschend viel Schwung machen wir uns auf den Weg. Als ich auf den bewaldeten Buckel in weiter Ferne über uns zeige, wo meiner Schätzung nach das Auto steht, verschlägt es doch manchen die Sprache. Bald aber stellen alle fest, dass wir wirklich gut vorankommen. Zu-Fuß-Gehen ist eindeutig hier die angemessene Fortbewegung! Nun finden wir auch Hinweise für die Orientierung. Die Leute, denen wir begegnen, auch die in den entgegenkommenden Fahrzeugen, sie alle schauen etwas verdutzt, dass wir noch so spät den Aufstieg beginnen. Hinter dem Bauernhof Etchebestea bewegt sich der Weg in einer steil ansteigenden Serpentine, die uns schnelle Höhenmeter verschafft. Dort, wo wir noch Honto vermuten, machen wir noch einmal eine kurze Rast. Zum Auto schätze ich weniger als eine halbe Stunde. Die letzten Kräfte werden mobilisiert und wir erreichen den Punkt 620, wie vorausberechnet, um 18.00 Uhr, mit Einbruch der Dämmerung. Walter hat mich verpflichtet, Brigittes legendären Ausspruch im Wanderbuch festzuhalten: „Heute reicht's mir!“ Zunehmend wird es kälter. Karolin bricht mit der ersten Gruppe, hauptsächlich den Fahrern, auf, um die restlichen Autos herbeizuholen.

Wir, die wir noch einige Zeit am Ziel zu warten haben, erleben von unserem Aussichtsplatz das unvergleichliche Schauspiel des aufziehenden Abendrots in den Bergen. Wir werden in eine geradezu weihevolle Stimmung versetzt, Staunen und Dankbarkeit beherrschen die Gefühle. Abendlieder strömen aus uns heraus. Konnte dieser großartige Tag schöner enden?

Aber auch der Epilog passt: Das Central erweist sich als ein Hotel mit Stil und wir lassen uns richtig verwöhnen. Toni und Beatrix haben die auf der Bergwanderung geborene Idee, ein Taxi für den nächsten Morgen zu besorgen, verwirklicht, so dass alle organisatorischen Voraussetzungen für eine krönende Schlussetappe getroffen sind. Im französischen Fernsehen erleben wir nicht nur einen „Otello“ ohne Mandoline, sondern auch den neuen deutschen Bundeskanzler - ohne „so wahr mir Gott helfe“.

Bernhard

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