Sonntag, 1.10.2000 -
Von Rabé de las Calzadas nach Castrojeriz - (27 km)
Es ist früh am Morgen, draußen funkeln noch die Sterne. Ich erinnere mich an die Legende vom Traum Karls
des Großen und dem Sternenweg. In diesem Traum fordert Santiago Karl auf, einen Pfad für die Pilger anzulegen,
damit sie, geschützt vor muslimischen Überfällen, der Milchstraße zu seinem Grab im fernen Galicien folgen
könnten. Er sagte, dass " ... alle Völker von Meer zu Meer dorthin reisen werden ... bis an das Ende der Zeit".
Ja, auch wir sind wieder unterwegs auf diesem alten Pilgerweg zum legendären Apostelgrab. Ein letzter Blick
aus dem Fenster unseres Zimmers auf die Plaza Santa Maria, den Brunnen und die Westfassade der Kathedrale
mit den zwei filigranen Kölner Türmen, ein mächtiges, wieder hell herausgeputztes Bauwerk, das schon die
früheren Jakobspilger tief beeindruckt hat.
Um 8.30 Uhr treffen wir uns im Frühstücksraum vom El Cid. Ein köstliches Frühstücksbüffet erwartet uns:
Tortillas, Schinken, Wurst, Joghurt, Obst, Säfte, Brötchen, Süßes, Saures, Salziges. Nicht das Richtige
für büßende Pilger!
Ein wenig Zeit haben wir noch, um Proviant einzukaufen für unseren heutigen Marsch durch die Meseta. Wir
finden einen kleinen Laden, der so früh am Sonntag geöffnet hat, wo wir wider Erwarten auch Mineralwasser
kaufen können. Jetzt sind wir gerüstet für den Tag, 27 km werden es sein. Was machen wir aber mit den
Flaschen, die wir im Hotelzimmer mit normalem Leitungswasser gefüllt haben? Wir tun, was wir eigentlich
nicht machen sollten. Wir stellen sie in eine Ecke des Vorraumes im Hotel El Cid. Es ist kein Abfallbehälter
zu sehen. Wir verstauen unser Gepäck in den Autos. Manfred macht nochmal einen letzten Kontrollgang, weil
es schon mal vorkommen kann, dass er etwas vergisst. "Ich habe zwei Flaschen Gerolsteiner gefunden, wem
gehören sie?" Walter glaubt, es sind seine Flaschen. Jetzt müssen Wolfgang und ich Farbe bekennen: "Diese
Fläschchen sollten vergessen werden, wir sind die Sünder."
Gemeinsam fahren wir mit unseren drei Autos bis Rabé-de-Las-Calzadas. Aus dem fahrenden Auto beobachte
ich die Jakobspilger, die schon in aller Frühe losgezogen sind. An ihren schweren Rucksäcken kann man
erkennen, dass sie nicht so komfortabel pilgern wie wir.
In Rabé-de-Las-Calzadas steigen wir aus, schultern die Rucksäcke und beginnen schon mal, in der frischen
Morgenluft mit gemäßigtem Schritt den gelben Pfeilen zu folgen. Walter, Beatrix und Gert übernehmen es
heute Morgen, unsere Autos zum Tagesziel vorzufahren. Sie werden uns schnell einholen, wenn sie mit einem
Auto zurückgekommen sind und es hier abgestellt haben. Unser Weg führt uns vorbei an grauen Steinhäusern,
an einem Friedhofskirchlein hinauf in die kastilische Hochebene, die Meseta. Grillen und Lerchen singen
ihr Morgenlied. Eine Gruppe junger Jakobspilger auf Fahrrädern überholt uns. Ultreja! Jetzt sind wir also
in Spaniens "Ohne Baum Land", von dem man eigentlich immer nur hört, es sei flach, langweilig und glühend
heiß. Eine Landschaft von endloser Weite, Stoppelfelder soweit das Auge reicht, ab und zu mal ein Busch,
ein Baum, Hecken und Disteln am Wegesrand und ganz viel Steine! Die Felder sind abgeerntet und abgebrannt.
Gestreift wie ein Zebra sieht das Land aus, oder wie ein großer Flickenteppich, einmal quer dann wieder
längsgestreift. Oft finden wir Steine am Wege, die zu kleinen oder größeren Steintürmchen oder Mäuerchen
aufgeschichtet sind. Es ist jetzt 10 Uhr, wir warten auf unsere drei Autofahrer. Die Sonne steigt höher,
es wird wärmer. Auf einer kleinen Anhöhe, der Cuesta Matamulas, machen wir Rast. Eine aus Steinen
aufgehäufte Pyramide steht hier, wir haben einen schönen Blick in die Weite der Landschaft. Wir hören
Toni zu, der mit uns meditiert: Weites Land. Diese weite Landschaft kann Sinnbild für unser Leben sein.
Wie auf diesen Feldern gibt es auch in unserem Leben Zeiten der Ruhe, der Fruchtbarkeit, des Ertrages.
Auch unser Leben ist nie fertig, es gibt Zeichnungen, Wegschneisen.
Die Meseta liegt hier auf einer Meereshöhe von 800 bis 900 m, endlose Ebenen und Hügel, die Entfernungen
sind nur schwer abzuschätzen. Die Hochebene fällt leicht ab in das Flusstal des Hormazuelas. Wir kommen
nach Hornillos del Camino. Die
Häuser gruppieren sich alle um die einzige Straße des kleinen Ortes, La Calla Real, über sie sind zu allen
Zeiten Jakobspilger gezogen. Die Jahrhunderte scheinen an diesem Ort nichts verändert zu haben. Blumenkästen
in den Fensternischen, rosa Kletterrosen an den alten Steinhäusern, bunte Petunien und herbstliche Dahlien
geben dem kleinen Ort einen ganz besonderen Charme. Es schlägt gerade 12 Uhr, als wir an der Kirche und
dem mit einem Brunnen geschmückten Vorplatz vorbeikommen. In einer kleinen Bar lassen wir uns den Pilgerstempel
geben, und wieder führt unser Weg hoch in die Meseta. 10 km sind es bis zum nächsten Ort! Unendliche Weite und
Einsamkeit vor uns, blauer Himmel über uns, felsig graue Erde unter unseren Füßen und als Begleiter ein
sausender, frischer, frecher Westwind, Gegenwind für Pilger! Man muss sich richtig dagegen stemmen. Er tut,
als sei er der alleinige Herrscher über die Meseta. Er bläst und pfeift, man kann sein eigenes Wort nicht
verstehen. Er hält mir mit seinem stürmischen Gesang die Ohren zu, als wollte er sagen: "Besinn dich auf
dich ganz allein. Ich schotte dich ab gegen alle anderen Geräusche. Auch strahlende Sonne macht müde und
kann schaden. Ich mache dich frisch und stark. Du musst dich auf das Wichtigste konzentrieren, das Unnötige,
Überflüssige verwehe ich." Ich mag diese Gedanken und freue mich, wenn mich der Wind so richtig durchpustet.
Am Wegesrand wachsen kleine Staudenpflanzen, die mir schon gestern aufgefallen sind. Sie tragen schwarze
Beeren. Irgendetwas stört mich an ihnen. Ich nenne sie Totenpflanzen, weil sie so dunkel sind.
Erst heute bin ich richtig auf dem Pilgerweg, mit Leib und Seele. Gestern war ich in Gedanken noch auf der
Fahrt. Diese Umstellung auf das andere Leben, meine Camino Euphorie, hat sich erst heute eingestellt. Ich
genieße den Weg, die Auseinandersetzung mit dem Wind, die Einsamkeit, die Freiheit. Auffallend schön
finde ich das leuchtende Rot der Hagebuttenhecken, ein bunter Farbtupfer, den ich in der Eintönigkeit
dieser Landschaft viel mehr beachte als zu Hause. Blühende Disteln, dürre Stoppeln, verblühter Lavendel
und immer wieder Steine begrenzen unseren Pilgerweg, der von zwei tiefen Radfurchen durchzogen ist. Es
ist ein schönes Wandern frei vom Lärm unseres Alltags, ganz viel Ruhe und Zeit. Der Kopf wird frei, die
Gedanken können schweifen … Dieser Weg, so eintönig er auch ist, für mich hat er eine gewisse Faszination!
Ein kleines, schwarzes Kätzchen gesellt sich zu uns und pilgert miauend mit. Sicher findet es in dieser
menschenleeren Gegend sein Zuhause nicht mehr und hat Hunger und Durst. Wie können wir ihm helfen? Eine
junge, sympathische Spanierin mit schwerem Rucksack auf dem Rücken und moderner Kalebasse in der Hand,
die uns mit flottem Schritt eingeholt hat, versucht, unserer vierbeinigen Begleiterin aus der hohlen
Hand ein wenig von ihrem Trinkwasser zu spendieren. Unser Kätzchen verweigert aber den Trank. Erst als
die Spanierin aus ihrem Rucksack eine Tube mit einer Milch Kondenspaste herausholt und sie dem Kätzchen
anbietet, schleckt dieses mit sichtlichem Vergnügen die Köstlichkeit.
Ein Wegweiser zeigt eine Fuente an, ein kleiner Umweg. Es ist 13.30 Uhr, Zeit zur Mittagspause. Wir
nehmen diesen Weg in der Hoffnung, einen schönen Rastplatz in dieser Einöde zu finden. Unsere spanische
Peregrina wandert weiter auf dem Camino mit dem Kätzchen, das sie liebevoll auf dem Arm mitträgt. Ein
kleines Steinhaus mit rotem, achtzackigem Templerkreuz auf einem weißgetünchten Anbau mit Kuppeldach, ein
Miniwald mit Tischen und Bänken so lädt die Quelle ein zur Siesta. Aber es ist sehr kalt geworden und
windig, keine Spur von glühender Meseta oder sonnigem Spanien. Einige unserer Gruppe suchen Schutz auf
den Stufen, die zur tiefer gelegenen, hoch ummauerten Quelle führen, wo der kalte Wind nicht so ankommt.
Im Haus treffen wir drei junge Männer, die diese Jakobus Oase betreuen. Wir hören deutsche Laute: Iserlohn
ist die Heimat des Herbergsvaters. Wir bekommen einen Pilgerstempel, Hospital de San Bol steht darauf.
Gegen eine Spende bieten sie uns Kaffee und warme Suppe an. Unter der Kuppel ist ein kleiner Andachtsraum.
Mollig warm ist es in diesem kleinen Pilgerdomizil, aber wir müssen weiter … immer geradeaus, einen Schritt
vor den anderen ... immer wieder … Steine … Felder ... dürres Gras ... Disteln ... Hagebutten,...
Rosenkranzgebet … Wege voll herber Schönheit.
Plötzlich, mitten auf unserem Pilgerpfad eine winzige Mohnblume! Ganz allein! Sicher hat sie es schwer
gehabt, in den von Trockenrissen durchzogenen Boden Wasser zu finden. Aber sie hat es geschafft, trotz
vieler vorbeitappender Pilgerschuhe Wurzeln zu schlagen, zu wachsen und zu blühen. Im Sommer, wenn das
Getreide vor der Ernte steht, gibt es in dieser Gegend viel Klatschmohn. Heute, im Oktober ist sie eine
Seltenheit. Ob ich sie pflücken darf? Ich kann der Versuchung nicht widerstehen. Mit schlechtem Gewissen
presse ich sie zum Trocknen in mein Büchlein. Hätte ich sie nicht gepflückt, hätten sich noch viele Pilger
nach uns an ihr freuen können.
Wir kommen an den Rand einer Niederung. Eine Kirchturmspitze und braun rote Häuserdächer tauchen plötzlich
auf. Die Orte sieht man erst, wenn man kurz davor ist. Das muss Hontanas sein. Der kleine Ort duckt sich
in die Mulde, um sich vor dem Wind zu schützen. Es ist ein verschlafenes, altes Dörfchen. Es sieht aus,
als sei die Zeit hier stehen geblieben. Die alten, teils zerfallenen Steinhäuser, die schmalen Gassen,
unberührt vom Lauf der Geschichte die mächtige Kirche .... und das Refugio! 500 Peseten kostet eine
Übernachtung. Ich lasse mir den Pilgerstempel geben und treffe wieder unsere Spanierin. Sie hat im Ort
einen Pflegeplatz fürs Findelkätzchen gefunden.
Ein Trampelpfad unterhalb eines Hanges parallel zur Straße führt uns durch das Tal des Garbanzuelo.
Walter hat schon eine Weile Probleme mit seinen Wanderschuhen. Sie sind zu klein und drücken. Kurz
entschlossen zieht er sie aus, zückt sein Taschenmesser und ritsche ratsche schneidet er in jeden Schuh
ein Guckloch für den großen Zeh. Der Eingriff zeigt Erfolg, leichtfüßig legt er die nächsten 8 km zurück.
Manche Probleme sind eben schnell gelöst! Toni lässt sich einladen von einem großen Stein am Wege, Pause
wäre schön? Nein, er beobachtet nur eine der zahlreichen Ameisenstraßen, die unseren Pfad queren.
Um 16.30 Uhr treffen wir wieder auf die schmale Landstraße, die nach Castrojeriz führt. Ein gefällter,
knorriger Baumstamm am Straßenrand ist die richtige Sitzgelegenheit für eine Erfrischungspause von 12
müden Pilgern. Trotz des zurückgelegten langen Weges ist unsere Gruppe quietschfidel und putzmunter.
Und weiter führen uns die gelben Pfeile und die blau gelben Muschelzeichen zu den gotischen Ruinen des
früheren Antoniterklosters San Anton aus dem 14. Jahrhundert. Französische Antonitermönche kümmerten
sich seit dem 12. Jahrhundert um Pilger und um Kranke, die am Antoniusfeuer litten, einer Krankheit,
die durch einen Getreidepilz verursacht wurde. Für eilige oder verspätete Pilger stand in einer
Fensternische, die man heute noch erkennen kann, zu jeder Zeit etwas zum Essen und Trinken bereit.
Immer wieder finden wir Spuren der Jakobspilger. Die Straße führt unter dem doppelten Spitzbogen der
Klosterruine hindurch. Die alten Gemäuer erzählen von vergangener Schönheit und Größe, von vielen
hilfesuchenden Menschen und Pilgerscharen, von der Vergänglichkeit alles Irdischen.
Nun ist es nicht mehr weit bis zu unserem Tagesziel. In der Ferne sehen wir auf einem Bergkegel die
Silhouette einer Burgruine. Am Fuße des Berges zieht sich der Ort Castrojeriz hin. Ein Ort, von dem
es heißt, schon Cäsar habe ihn gegründet und sein römischer Name sei Castrum Caesaris gewesen.
Wahrscheinlicher ist die Abkürzung des Namens von Castrum Sigerici Burg des Königs Siegerich,
einem Westgotenherrscher, der um 414 regiert hat. Eine stürmische Vergangenheit hat diese Burg.
Die Geschichte berichtet von vielen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen.
Der deutsche Servitenmönch, Hermann Künig von Vacht, der Ende des 15. Jahrhunderts nach einer
Pilgerreise ein Buch als Wallfahrtshilfe schrieb, hat den Namen Castrojeriz einfach umgedeutscht
in "Castel Fritz".
Am Ortseingang befindet sich ein eindrucksvolles, altes Pilgerkreuz, Johannes und Maria zu Seiten
des Gekreuzigten. Drei Kirchen gibt es in diesem Städtchen: Santo Domingo, San Juan und die alte
Stiftskirche Santa Maria del Manzora (vom Apfelbaum) mit einem berühmten Gnadenbild. Sie liegt an
unserem Weg, ganz am Anfang des Ortes. Gerne würden wir sie besichtigen, leider ist sie geschlossen.
Beatrix versucht vergebens, den Schlüssel zu bekommen.
Sieben Hospize gab es hier zur Zeit der Jakobus Wallfahrt. Noch vor 60 70 Jahren soll es hier im
Ort 12 Priester gegeben haben. Heute ist nur noch eine Messe in der Woche. Seitlich von der Kirche
zieht sich die Hauptstraße des Ortes über den ganzen Südhang des Berges. Wir gehen durch die engen
Straßen, es scheint kaum Verkehr hier zu geben. Ein großer Hund mit braunem Zottelfell liegt gemütlich
schlafend mitten auf der Straße! Ein Auto kommt langsam angefahren, hupt und wartet. Unser Hund reagiert
nicht. Erst beim nächsten Warnsignal erhebt er sich schwerfällig und trottet behäbig zur Seite. So ganz
sicher sind wir nicht, wo unsere Autos heute Morgen abgestellt wurden, aber einmal hin und einmal her,
und wir stehen vor unserem Hotel Puerta del Monte.
Sicher würde es noch einige Schweißtropfen kosten, den steilen Weg zum "Castel Fritz" hinauf auf den
Berg zu steigen. Keiner von unseren weitgewanderten, hungrigen Pilgern ist heute noch dazu bereit,
obwohl man von dort oben bestimmt eine herrliche Aussicht hat.
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