Samstag, 13.10.2001 - Von Bourges nach Hause

Wir sind auf der Heimfahrt, heute ist der allerletzte Tag unserer Pilgerschaft! Im Hotel Angleterre haben wir übernachtet, und nun geht es endgültig und unwiderruflich nach Hause. Es gibt keinen Jakobsweg mehr. Nach dem Frühstück besuchen wir die gotische Kathedrale St. Etienne. Sie steht als Weltkulturerbe unter dem Schutz der Unesco. Gestern Abend haben wir sie angestrahlt nur von außen besichtigen können, heute möchten wir sie auch von innen kennenlernen. Sie wurde in den Jahren 1195/1270 (Rohbau) und 1324 erbaut. Vom Domvorplatz betrachten wir die Westfassade: Zwei ungleich hohe Türme und fünf reich verzierte Portale in verschiedenen Größen und unterschiedlichen Steinmetzarbeiten sollen nach dem Willen des Baumeisters auf diese Weise Originalität und Vielfalt der Kathedrale zum Ausdruck bringen. Geschickte Hände haben mit Hammer und Meißel Geschichten aus der Bibel in Stein gehauen. Beim Betreten des Gotteshauses fallen sofort die leuchtend bunten Glasfenster auf. "Man muss das Rot der Kirchenfenster von Bourges und das Blau derer von Chartres gesehen haben", heißt es. Ein schönes Rubinrot ist die alles beherrschende Farbe des wunderschön gebrochenen Lichtes der mittelalterlichen Fenster. Ich denke, es ist die letzte Kirche, die wir Jakobspilger gemeinsam besichtigen. Beatrix erklärt uns vieles, macht uns aufmerksam, liest vor. Viel gibt es zu sehen. Wir könnten Tage hier verbringen, um alles genau anzuschauen und aufzunehmen. Toni macht sich in seiner Meditation Gedanken zum Thema Kirchen, Kathedralen. Sie sind steingewordene Botschaften aus vergangenen Tagen auch für uns und unsere Zeit. Wir müssen "lesen" lernen. Zum Abschluss singen wir das Te Deum und ein letztes Mal das Laudate omnes gentes, das uns auf dem ganzen Jakobsweg begleitet hat. Danke für viele schöne Erlebnisse, danke für gutes Ankommen!

Bis zum Start nach Hause haben wir noch ein wenig Zeit für persönliche Besorgungen. Wolfgang und ich bummeln durch das Städtchen, besuchen das Touristenbüro, kaufen eine CD "Chants de lumière", aufgenommen in der Kathedrale St. Etienne. Alles möchten wir festhalten, zu Hause uns wieder daran erinnern, "Jakobswegsgefühle" wieder abrufen können. Wir treffen Regina und Walter, nein, es gibt keinen café con leche mehr, nur noch café au lait. Treffpunkt ist wieder vor unserem Hotel, wo unsere reisefertigen Autos stehen. Wir starten in Richtung Sancerre, die Tanks werden gefüllt. Rebstöcke verraten, dass wir durch eine Weingegend fahren. Eine schöne Kastanienallee, dann Blick ins weite Land, ein Viadukt, eine alte Kirche, der Kanal, die Loire, eine Hängebrücke, Maisfelder, Montargis, Autobahn, irgendwo ist Mittagspause, Sens, Troyes. Wir fahren durch die Champagne, Rüben und Ähren auf dem Departement Schild; Chalons, Verdun, immer bekannter wird die Strecke. Bei Verdun machen wir Halt auf einem Parkplatz. Wir kennen ihn schon von vergangenen Jahren. Immer haben wir hier Abschied genommen, jetzt ist es die allerletzte Station! Beatrix verteilt unsere Compostelanas. Sie hat sie für uns alle in einer Papprolle aufbewahrt. Es ist nicht einfach, diese Wallfahrtsurkunde unbeschadet im Pilgergepäck zu transportieren. Gegen Einsicht in unsere mit Stempeln prall gefüllten Pilgerausweise wurde uns dieses Dokument, in lateinisch geschrieben, in Santiago ausgestellt. Es beglaubigt jedem persönlich, dass er in frommer Absicht als Pilger in Santiago angekommen ist. Zuvor wurde noch ein Diktionär gewälzt, um unsere Vornamen ins Lateinische zu übersetzen. Mein Name wurde zu Brigidam. Zur Zeit der Jakobuswallfahrt waren diese Compostelanas von großer Bedeutung. Heute kann es jeder bekommen, der mindestens 100 km zu Fuß oder 200 km mit dem Fahrrad oder zu Pferd auf dem Camino gepilgert ist, und zwar direkt vor dem Pilgerziel Santiago. Eine Strecke inmitten des Weges wird nicht anerkannt.

Der Camino findet seinen Abschluss, wir verabschieden uns. Unglaublich schnell ist die Zeit unserer Pilgerschaft vergangen. Es gab viele Höhepunkte, wir durften Kunst und Natur bewundern, frohe Gemeinschaft erleben. Der Weg hat fasziniert und herausgefordert. Vieles hat sich in Tiefen abgespielt, die man mit Worten nicht beschreiben kann; der Weg hatte viele Gesichter! Die Erlebnisse werden uns noch lange begleiten, und vieles muss in stillen Stunden zu Hause noch aufgearbeitet werden. Diese Zeit auf dem Camino war eine Kraftquelle für das Leben und den Glauben! Wir waren am Ziel, jetzt beginnt wieder ein neuer Weg. Dass wir etwas von der frohmachenden Ausstrahlung des Jakobsweges hinüberretten können auf unseren Alltags-Camino, der sicher nicht so leicht zu bewältigen ist, wie der Pilgerweg, das wünsche ich uns allen!

Brigitte

Jahresanfang Vortag Seitenanfang   Nachlese