Gedanken auf dem Jakobsweg

Berg und Tal - In der Herberge 'Ventas de Narón'

Gestern haben wir über 'Spuren - suchen - finden - folgen', vorgestern 'Mehr als 1000 Jahre' nachgedacht, heute über 'Berg und Tal'. Wir machen das jetzt schon seit Samstag mit. Vom Berg ins Tal, vom Tal auf den Berg. Wir haben nicht gezählt, wir oft wir schon Aufstiege, Abstiege hinter uns haben. Wir machen es jetzt im siebten Jahr mit. Von vornherein war es so. Aufstieg, Abstieg. Manchmal sind die Aufstiege angenehm, wie heute Morgen; über lange Strecken; eine leichte Steigung. Manchmal sind sie ganz hart. So wie vor ein paar Tagen von Triacastela über Balsa zur Höhe von Riocabo, oder von Herrerias hinauf nach Cebreiro, oder von Villafranca hinauf nach Pradela. Da ist auf jedem Schritt ein Tropfen Schweiß. Aber die Abstiege, die sind auch nicht immer so einfach. Einige von uns haben sogar viel größere Mühe mit dem Abstieg als mit dem Aufstieg. Und wir haben sie auch schon mitgemacht; den Abstieg hinunter nach Ponferrada, und manchen andern; gestern, wo es so ganz steil hinunter ging in die Orte, wo man nicht mehr wusste, wohin man treten kann. Sogar gestern Abend noch den letzten, der hinunter führte nach Portomarin. So ist der Weg. Aufstieg und Abstieg. Wenn man oben ist freut man sich, dass man oben ist, aber es hält gewöhnlich nicht lange, und der Abstieg beginnt. Wenn man unten ist weiß man, es geht bald wieder bergauf. So ist das Leben. Ein Wechsel von Aufstieg und Abstieg. Wie hoch ist der Berg zum Abitur?, hat mancher gefragt, wie hoch ist der Berg zum Abschluss, zur Gesellenprüfung?, wie hoch ist der Berg, ein neues Haus zu bauen, es zu bezahlen?, wie hoch ist der Berg der Sorgen, die von anderswoher in den Weg gelegt werden? Aber ich muss hinüber. Ich kann nicht ausweichen. Die Umwege wären unendlich, vielleicht sogar unmöglich. Ich muss über den Berg. Ich muss durch das Tal. Ich kann nicht oben bleiben. Auch das ist eine Erfahrung. So wenig ich im Tal sitzen bleiben kann und darf - muss, so wenig kann - darf - muss ich auf dem Berg sitzen bleiben. Was ist schöner? Ich weiß es nicht. Von oben hat man die weite Übersicht, sieht man weit zurück. Wir haben es in diesen Tagen vielleicht ein wenig vernachlässigt, das Zurückschauen. Wörtlich: Das Zurückschauen auf den Weg, den wir gegangen sind. Man kann nicht oben bleiben. Was man einmal erklommen hat - der Bernhard kan ein Lied davon singen - von seinen Drei- und Viertausendern musste er all zu rasch immer wieder herunter. Man kann sich nicht lange auf dem Gipfel halten. Man kann auch nicht im Tal sitzen bleiben, wie wohl die Literatur und die Lieder unsere Erde manchmal mit einem Jammertal vergleichen, das seine Probleme hat. Ich weiß es nicht, ob der Berg mehr Probleme aufwirft oder das Tal, ist es mühsamer hinauf oder wieder hinab zu kommen. Auf alle Fälle ist es ein Stück von unserer Zeit, ein Stück von unserem Leben, das eine Berg- und Talfahrt ist. Und wenn es uns manchmal so angenehm erscheint, wenn es bergab geht, das zeigt sich plötzlich als ein Weg, den man garnicht mehr aufhalten kann. Ein Weg in eine Krankheit, aus einer Krankheit. Ein Weg in eine zerbrechende Freundschaft, aus einer zerbrochenen Freundschaft. Ein Weg voller Hoffnung, ein Weg in eine Enttäuschung, all das, Berg und Tal. Der eine sieht es so, der andere andersherum. Aber wir sehen es in diesen Tagen, Berg und Tal, wir erleben es, ganz dicht und ganz intensiv. Wir werden sicher noch ein paar Berge und ein paar Täler durchwandern müssen, bis wir am Montag Abend in Santiago ankommen. Die allermeisten haben wir geschafft, aber etliche liegen wohl noch vor uns. Auch heute Morgen war es schon anstrengend genug, aber es wird so weitergehen, heißt es in den Berichten. Es wird immer so weitergehen. Wer all das hinter sich gelassen hat im Tal, wer auf jeder Wegbiegung Neues erkannt hat, gesehen hat, wer sich voll Freude auf den Gipfel begeben hat, der hat viele Schönes gesehen, aber er kann nicht bleiben. So ist es auch im Leben. Alles, was wir erreicht haben und erreichen, können wir nicht festhalten. Wir werden es stehen lassen müssen, wir werden es zurücklassen müssen, wenn die Talfahrt wieder beginnt. Wenn wir dort sind, dürfen wir die Hoffnung hegen, dass es wieder aufwärts geht.

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