Samstag, 6.10.2001 -
Von Palais de Rei nach Ribadiso (25 km)
Gert und Manfred fehlen heute Morgen beim Frühstück im Hostal Ponterroxan. Sie haben sich gestern Abend bereit
erklärt, die Autos vorzufahren zum Tagesziel, und nun sind sie noch nicht zurück. Haben sie verschlafen, oder
ist sonst etwas schiefgelaufen? "Im Tiefflug" seien sie durch die Landschaft geflogen, erzählen sie nach ihrer
Rückkehr. Als sie heute früh wegfahren wollten, war unser Hostal noch verschlossen. Ein Herauskommen war unmöglich!
Zuerst musste der Wirt telefonisch herbeordert werden, der dann unseren Fahrern die Haustür aufschloss.
Wie jeden Morgen machen wir uns nach dem Frühstück und dem Packen der Autos auf den Weg, frisch und voller Vorfreude,
wieder Neues zu entdecken. Seit wir in Galicien sind, läuft der Kilometer-Countdown. Im Abstand von 500 Metern
markieren Meilensteine aus hellem Granit, mit Muscheln verziert, den Pilgerweg und zeigen an, wie weit es noch bis
Compostela ist. 65 km steht auf dem ersten Stein, den ich heute Morgen gleich nach Verlassen des Hostals entdecke.
Ein kleines Stück Landstraße, bei km 64 biegen wir ab auf einen Trampelpfad. Im Osten versuchen einzelne Sonnenstrahlen
die dunklen Regenwolken zu durchbrechen. Eukalyptusbäume, knorrige Eichen, große Kastanienbäume und Zypressen
begleiten uns. Über einen verwilderten Hohlweg erreichen wir San Xulian mit einer kleinen romanischen Kirche und
dem Friedhof. Der Pfad führt bergauf und bergab, große und kleine Steine auf dem Weg. Es geht über den Rio Pampre.
Bei km 60 sind wir in Casanova. Wenigstens einmal ein Name, den man gut behalten kann!
Ich habe den Eindruck, die Kilometersteine stehen immer dichter, im Nu sind 0,5 km gegangen. oder liegt es an unserem
flotten Tempo heute Morgen? Bei Coto, km 57, stoßen wir wieder auf die Landstraße. Ein Posthorn mit königlicher Krone
verspricht eine Correos. Ich erinnere mich an meine Postkarten, die ich mangels Briefmarken schon einige Tage mit mir
rumtrage, und ich hoffe, sie endlich loszuwerden. Vergebens, es ist nur ein kleiner Kramladen mit einer Poststelle,
Briefmarken sind komischerweise nicht zu haben.
Hinter Coto verlassen wir die Provinz Lugo und erreichen die letzte Provinz unseres Jakobsweges. Durch 6 spanische
Provinzen, durch ganz unterschiedliche Landschaften, hat unsere Pilgerroute uns bisher geführt, Navarra, La Rioja,
Burgos, Palencia, Leon, Lugo, und nun sind wir in La Coruña, der 7. Provinz des spanischen Jakobsweges, die bis ganz
in den Westen Spaniens, bis ans "Ende der Welt" reicht.
Die Berge rücken in die Ferne. Wir pilgern durch eine Heidelandschaft, Ginster und Pilze am Wegesrand, ein ständiges
Auf und Ab. Manchmal finden wir noch typisch galicische Einfriedungen: hochgestellte Schieferplatten, eine neben der
anderen in den Boden gerammt.
In Leboreiro verlässt gerade eine Rinderherde ihren Stall. Eine humpelnde Kuh hat doch tatsächlich ein Brett vor den
Augen und kann nichts sehen. Was soll das bedeuten? Kommt unsere Redewendung "ein Brett vor dem Kopf haben" aus der
Landwirtschaft?
Vor dem alten Portal der kleinen Wallfahrtskirche Santa Maria aus dem 12. Jahrh. sammeln wir uns zur
Meditation: Häuser am Camino, neue, alte zerfallene sie könnten Sinnbild sein für unser eigenes Leben, auch wir
waren jung, werden älter, vielleicht krank .... Beatrix hat Probleme mit ihren Füßen, ein neues Pflaster muss drauf.
Schwester Helga und Doktor Edgar stehen hilfreich zur Seite und leisten fachgerechte Arbeit. Ein breiter Plattenweg
führt durch den alten, bäuerlichen Ort, der schon im Pilgerführer von Aymeric erwähnt wurde. Bernhard und Manfred
erzählen sich Pfälzer Witze.
Immer wieder finden wir die für Galicien typischen Getreidespeicher, die "Hórreros." Sie stehen auf hohen Sockeln,
um Nässe und hungrige Nager fernzuhalten. Sie gelten als Wahrzeichen Galiciens. In Discabo führt eine alte
Spitzbogenbrücke, die Magdalenenbrücke, über den Seco.
Wir gelangen in eine offene, bunt blühende Heidelandschaft, das Hasenfeld. Die Legende erzählt, Santa Maria von
Leboreiro (vom Hasenfeld) habe sich immer vor Marienfesten hier an einer kleinen Quelle die Haare gekämmt. Viele
Legenden entstanden am Jakobsweg und wurden von den Pilgern immer wieder weitererzählt. Wenn man den immer
wiederkehrenden Erzählungen unserer eigenen Pilgergruppe lauscht, versteht man sehr gut, wie Legenden entstehen!
Jetzt säumen Pappeln unseren Weg.
Wir pilgern durch ein Gewerbegebiet, über planierte, parkähnliche Wege, die man
speziell für Jakobspilger angelegt hat mit großen Gedenksteinen für Leute, die sich für die Jakobspilgerschaft
eingesetzt haben. Wir finden eine gefasste Quelle, einen Pilgerrastplatz und ein großes, rotes Santiago Kreuz auf
einer Eisenstange. Links in der Ferne zieht sich eine grüne Bergkette hin, rechts von uns verläuft die Hauptstraße.
Wir sind nicht mehr weit entfernt von der Kreisstadt Melide. Noch gibt es hier weidende Kühe. Unser Pilgerweg führt
durch einen Wald und bei km 52,5 über eine malerische, alte Bogenbrücke, die Ponte velha, in das mittelalterliche
Furelos. Es soll die historisch bedeutendste Brücke Galiciens sein.
Die kleine Pfarrkirche San Juan ist offen! Wir haben sogar eine Führung. Carmen Santos heißt die junge Frau, die
uns mit viel Liebe und Begeisterung von der Geschichte ihrer Kirche erzählt und uns die Kunstwerke erklärt. Das
Holzgewölbe des Chores sieht aus wie ein umgedrehter Schiffsrumpf. Auffallend und beeindruckend ist ein großes
Kruzifix mit einem einzigartigen Christus. Nur seine linke Hand hängt am Kreuz, seine rechte Hand zeigt nach unten,
so, als wolle er das pilgernde Gottesvolk lenken und geleiten oder als Mittler zwischen Himmel und Erde ihm hinauf
helfen in den Himmel.
Lautstark und fröhlich werden wir von unserer italienischen Pilgergruppe mit ihren orangefarbenen Hüten begrüßt,
die wir seit ein paar Tagen immer wieder treffen.
Wir machen uns wieder auf den Weg. Bei km 51 erreichen wir Melide, und wieder sind viele alte Häuser se vende. Wir
suchen ein Lebensmittellädchen und stellen unser Pilgermenü für heute Mittag zusammen: Brot, Cerrano Schinken,
Tomaten, Bananen, Oliven, Ölsardinen. Ganz im Zentrum wartet schon ein gemütlicher Marktplatz mit Bänken und Lampen,
geformt wie Jakobsmuscheln, auf müde Pilger. Noch scheint die Sonne vom strahlend blauen Himmel. Der Pfarrer des
Städtchens gesellt sich zu uns und erzählt uns von Galiciens 4 Provinzen. Ganz plötzlich schiebt sich eine dunkle,
drohende Wolkenfront vor die Sonne. Die Sonne verschwindet, es wird richtig finster. Karin folgert daraus: "Die
haben uns einfach das Licht ausgeschaltet." Noch können wir in Ruhe unser Mittagsmahl beenden und Manfreds Nachtisch
genießen.
Die Calle Principal führt uns stadtauswärts. Kurz aber steil geht es hinauf zur Capilla del Carmen mit einem
kleinen Friedhof. Unter einem Nussbaum, der wie ein schützendes Dach den beginnenden Regen abfängt, warten wir, bis
alle zusammen sind. Rosenkranzgebet! Stillschweigend wandern wir eine Weile weiter. Jeder ist mit seinen Gedanken
beschäftigt. Es ist gut, sich ein wenig Zeit zu lassen zum Nachdenken. Viel Zeit und Ruhe, das ständige Gehen machen
offen für das Gebet und die Gedanken des Rosenkranzes auf dem Camino.
In Carballal überqueren wir den Lazaro. Durch einen dichten Eukalyptuswald gelangen wir ins Flusstal des Barreiro.
Ich finde, heute ist der Tag der Bäche und Flüsse. Viele kleine Täler mit Flussläufen und Bächen kreuzen unseren
Wanderweg. Ein ganzes Dutzend ist auf der Skizze in unserem Pilgerführer eingezeichnet. Km 45,5 die Sonne lässt
sich wieder blicken! Pinienbäume und Farnkraut am Wege. Auf der kleinen Steinbrücke über den Valverde Bach machen
wir Rast.
Beatrix tut mir leid, ihre schmerzenden Füße machen ihr zu schaffen. Sie entschließt sich zu einer
Operation mit einer spitzen Nadel, assistiert von Manfred. Jetzt geht es hinab nach Boente mit seinem Saleta Brunnen
und einem Wegkreuz. Schnell werden unsere Wasserflaschen frisch aufgefüllt. Bei einem solchen Fußmarsch lernt man
den Wert der frischen, sprudelnden Quelle richtig schätzen. Boente ist ein alter Pilgerort am Camino. Seine
Pfarrkirche trägt den Namen Santiago. Sie ist offen, und wir finden eine Statue des hl. Jakobus, diesmal nicht
als Pilger, sondern sitzend wie in Compostela. Die Spitze unserer Gruppe hatte das Kirchlein übersehen und ist
uns nun schon weit voraus. Vielleicht sollten wir ein wenig schneller den gelben Pfeilen folgen, die uns zum
Ortsausgang durch einen Tunnel und weiter hinab ins Boente Tal führen. Heute ist es den ganzen Tag hügelig. Es
geht auf und ab, durch Wiesen und Felder, über den Bach Ribeiral. Nun schlängelt sich unser Weg wieder den Berg
hinauf durch einen Eukalyptuswald. Riesig sind die Eukalyptusbäume mit ihren hohen, schlanken Stämmen, den
sichelförmigen, silbergrünen Blättern und den knopfähnlichen Früchten. Man hat sie in Galicien angepflanzt, weil
sie sehr schnell wachsen. Aber das abfallende Laub ist lederartig, hart und fest und verrottet nur sehr schwer.
Alles Leben erstickt unter den Blättern.
Jetzt müssen wir eine steile Holztreppe hinauf, an deren Ende uns eine Brücke über die C 547 führt.
Km 40, in einem kleinen, einsamen Café in einer Wiesenlandschaft beenden wir unseren heutigen Pilgerweg. Es sind
noch etwa 4 km bis Arzua. Unten im Tal fließt der Rio Iso. Bei Café con leche, Brot und Schinken warten wir, bis
unsere Fahrer uns mit den Autos abholen und zum Hotel Suiza in Arzua bringen. Um 18.30 Uhr haben wir es geschafft!
Vor unserem Hotel steht ein richtiges galicisches Cruceros. Man muss es von beiden Seiten betrachten. Typisch für
diese Wegkreuze ist die Darstellung des gekreuzigten Christus auf der Vorderseite und Maria auf der Rückseite.
Beim Abendessen überlegen wir (sehr temperamentvoll), wieviele Kilometer wandern wir morgen und wieviele übermorgen.
Die letzte Etappe unserer Pilgerstrecke sollte nicht mehr so groß sein, damit wir zeitig in Compostela ankommen. Es
ist eine alte Pilgertradition, einigermaßen frisch in Santiago anzukommen, um aufnahmebereiter zu sein für das
Erlebnis der legendären Stadt.
Ja, das Ende unseres Weges rückt näher. Es ist kaum zu glauben, nach 7 Jahren Pilgerschaft werden wir übermorgen
am Ziel sein. Viel zu schnell sind die Tage vergangen. Mich beherrschen heute Abend ganz unfromme Gefühle. Ich habe
überhaupt keine Lust "anzukommen", ich möchte die Zeit anhalten und noch weitergehen. Ich weiß nicht, soll ich mich
freuen oder nicht?
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