Gedanken auf dem Jakobsweg

Sich auf den Weg machen - Am Eisenkreuz bei Foncebadón

Wir sind zwar gestern Morgen schon aufgebrochen, aber bisher haben uns die Autos getragen und hergebracht; noch nicht unsere eigenen Füße. Doch gleich, wenn wir da unten sind, machen wir uns auf den Weg; mit unseren eigenen Füßen. Wir werden wieder acht oder zehn Tage gehen. Diese acht oder zehn Tage Jakobsweg sind ein symbolisches Stück Leben. Vieles was das Leben ausmacht, werden wir auf diesem kurzen Wegstück, in diesen zehn Tagen, ganz neu begreifen, erleben, im wahrsten Sinne des Wortes, und uns verinnerlichen. Schritt für Schritt werden wir wieder gehen, so wie das Leben ist. Tag für Tag, Stunde für Stunde werden wir weiterkommen, Schritt für Schritt, wie das Leben ist. Jeder hat seinen Schritt, hat seinen Weg, jeder hat seine Eigenart, seine besondere Individualität, aber keiner geht ihn allein. Selbst die Leute, die diesen Weg alleine gehen, treffen immer wieder andere. So ist auch unser Leben. Mit unseren Individualitäten begegnen wir einander. Und es gelingt nur, wenn wir unsere Individualitäten abstimmen; wenn wir sie nicht ausleben zum Egoismus. Das heißt, wenn wir anfangen, Rücksicht zu nehmen. Das Leben gelingt nur den Leuten, die sich nicht als großer King vorkommen und meinen, alles müsse nach ihrer Pfeife tanzen. Sie sind bald isoliert und allein. Wir erleben es auch wieder, wie wir miteinander gehen, aufeinander hören, uns gegenseitig abstimmen und Rücksicht nehmen. Wer in die Berge geht, hat das längst verstanden. Der langsamste gibt das Tempo an. Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Das sind Worte, Wahrheiten, die wir in diesen Tagen wieder neu erfahren können; begreifen können; erleben können. Wir sind eine Gruppe von sechzehn; sechzehn Individualitäten, und doch ist unsere Gruppe mehr als die Summe aller Einzelnen. Das ist beispielsweise gestern Abend schon herausgekommen, als wir am Tisch saßen, als wir miteinander gelacht haben, gefrotzelt haben, uns gegenseitig aufs Ärmchen genommen haben, als wir die Erlebnisse vergangener Jahre wieder aufleben ließen. Wir sind mehr als die Summe aller Einzelnen. Und so machen wir uns wieder auf den Weg, lassen wieder vieles hinter uns. Man kommt nur weiter, wenn man das Bekannte, das Erlebte, hinter sich lässt. Wenn man den Weg hinter sich lässt, nur dann kann man einen neuen Weg gewinnen. Wenn man die Mühen nicht scheut; wenn man hinaufgeht in die Höhe, dann hat man den Ausblick, den Umblick, den Weitblick. So ist das Leben. Wir machen uns wieder auf den Weg. Um zu leben, um zu erleben, um weiter zu kommen. Ein Stück Leben, für acht Tage, für zehn Tage, das symbolisch Monate und Jahre bedeuten kann. Wir gehen unsern Weg nicht zum ersten Mal. Vor uns gehen schon Menschen diesen Weg, mehr als tausend Jahre. Wir sind in einer Nachfolge. Wir machen uns auf den Weg zum Leben wie ihn schon Hunderttausende, Millionen vor uns gegangen sind, gelebt haben, sich bewegt haben, voll Zuversicht nach vorne geschaut haben, und nach rückwärts verstanden haben. Auch das ist uns heute schon aufgekommen. "Dahinten sind wir gelaufen!", es liegt hinter uns. Jetzt wollen wir in diesem Jahr wieder ein Stück Neuland gewinnen, erobern; uns auf den Weg machen. Neues, wie es im Lied heißt, zu erleben.

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