Freitag, 28.9.2001 -
Nach Santiago
Lange habe ich überlegt, welche Überschrift über diesem Bericht stehen sollte. 'Anfahrt' war der
Arbeitstitel in meinem Video. 'Aufbruch', Tonis Überschrift über die erste Meditation am Cruz de Ferro.
'Auf zum letzten Gefecht', zu vorbelastet, dennoch zutreffend, denn dieser Aufbruch war anders als
jeder Aufbruch in all den Jahren zuvor. Über dem ersten Aufbruch, vor 6 Jahren in Le Puy, den ich leider
nicht miterlebt habe, standen sicher viele Fragezeichen. Wie wird das? Was werden wir alles erleben? In den folgenden Jahren war es dagegen ganz anders. Zwar gab es immer
wieder Fragen: Wie ist der Süden? Wie kommen wir über die Pyrenäen? Wie sieht es in Spanien aus? Aber wir waren weder
am Anfang noch würden wir unser großes Ziel erreichen; immer nur Etappen. Das war in diesem Jahr anders. Gut
zweihundert Kilometer: kein Problem. Etappen: nur eine technische Frage. Wer mit wem, wann fahren wir los:
Nebensache, das ergab sich. Aber diesmal: Wie wird es sein, wenn wir endlich ankommen? Espalion, Cahors, Éauze,
Roncesvalles, Burgos, Ponferrada, das war nicht Santiago; und wie waren wir dort jedesmal so glücklich; geschafft.
Nur Zwischenziele. Diesmal, und das sorgte für eine besondere Spannung, würde es das Ziel sein. Das definitive Ende
einer Pilgerreise. Keiner sprach darüber, aber es war unausgesprochen spürbar.
Wir trafen uns also am Freitag, den 28. September um 8 Uhr an der ersten Mautstelle der A 4, etwa 25 km hinter Metz.
Die Gruppe war auf 16 Mitpilger angewachsen und hatte sich dabei deutlich verjüngt; auch Karolin, Bettina und Karina
waren wieder dabei und Karina hatte noch ihre Freundin Bianca mitgebracht. Begrüßung mit großem Hallo und natürlich
schon die ersten Frotzeleien (machen wir einen Zwischenstop in Poitiers?, ist irgendwo ein Anorak oder ein Kopfkissen
liegengeblieben - oder irrtümlich mitgenommen worden?), dann heißt es 'Aufsitzen'.
Bei herrlichem Spätsommerwetter erreichen wir nach 2 ½ Stunden Paris, ein bisschen Troubel um die Stadt herum, und
um die Mittagszeit treffen wir uns alle wieder auf der Raststätte bei Meung sur Loire. Die Stimmung entsprach dem
Wetter und bald ging es wieder weiter. Nächster Treffpunkt: Erste Raststätte nach Bordeaux; die kannten wir noch
vom letzten Jahr. Viele bekannte Stationen lagen an der Strecke: Blois, da waren wir vorletztes Jahr; Tours, Walters
Station auf dem Hinweg vor einigen Jahren; Poitiers, was war denn da noch? Endlich Bordeaux. Hier war es schon später
Nachmittag, und die Abstände, bis alle Fahrzeuge da waren, waren schon wesentlich größer. "Nur noch 190 km - das
schaffen wir locker". Tatsächlich sind wir in knapp 2 Stunden in unserem Hotel in Bayonne, in dem wir letztes Jahr
schon einmal übernachtet haben. Es ist zwar kein "Grand-Hotel", aber die Zimmer sind top in Ordnung und das
Abendessen vorzüglich.
Heiße Debatte über die morgige Strecke: Fahren wir im Konvoi oder treffen wir uns an bestimmten Punkten. Aus den
Erfahrungen des letzten Jahres beschließen wir, einzeln zu fahren und uns zunächst in Vittoria, dann in Burgos und
zuletzt in Villadango zu sammeln und von dort das letzte Stück bis zum Eisenkreuz zusammen zu fahren.
Wir müssen früh aufbrechen am nächsten Morgen, denn der Weg ist weit und lang. Es bleibt dabei, jeder fährt für
sich. Dennoch: trotz Tankstops und zahlreicher Mautstellen rund um San Sebastian treffen wir im Sekundentakt an
der Raststätte in Vittoria ein. So geht es auch auf der weiteren Strecke, selbst als in der Nähe von Burgos das
'Leitfahrzeug' frei nach dem Film 'Der Weg führt ins Nichts' mit dem bekannten Chaos-Darsteller M.P. auf der
Suche nach der ultimativen Abkürzung in der weglosen Pampa steckenbleibt. War das ein Vorgeschmack auf den
diesjährigen Jakobsweg?
Bei Tardajos begegnen wir den ersten Pilgern, die hier die Straße kreuzen. Erinnerungen aus dem Vorjahr werden
wach - "dort drüben an der Pappelreihe sind wir vorbeigekommen" - "ja, und da vorne, die Brücke........". Plözlich
sind wir wieder auf dem Jakobsweg. Am liebsten würde ich aussteigen und zu Fuß weitergehen, aber das bleibt nur
ein Wunschtraum. Wegwieser tauchen auf: Castrojeriz, Itero del Castillo. Die Brücke über den Rio Pisuerga; hier
beginnt die Provinz Palencia. Wir kommen durch Osorno. Dem einen oder anderen läuft das Wasser im Mund zusammen:
dort gab es dieses berühmte Lammgericht, von dem noch alle schwärmen. In Carrión beginnt die neue Autobahn, deren
Baulärm uns im vergangenen Jahr tagelang begleitete. Über viele Kilometer fahren wir neben dem Pilgerweg dahin.
In Sahagun stellen wir fest, dass wir Walter verloren haben. Aber wir haben uns ja in Villadangos verabredet, und
tatsächlich, eine Viertelstunde nach uns trifft auch er dort ein. Das Hostal Avenida II ist uns allen noch in
bester Erinnerung. Auch diesmal ist es ein idealer Treffpunkt; ein Kaffee, ein Saft, dann geht es weiter, nur
noch ein kurzes Stück. Jetzt müssen wir zusammenbleiben, was in Astorga gar nicht so einfach ist. Dann geht es
zusammen das schmale Stäßchen hinauf in die Montes de Leon. Murias, Castillo, El Ganso, Santa Catalina, Rabanal
(del Camino !), das verlassene und zerstörte Foncebadón, dann steil hinauf zum Cruz de Ferro, zum Eisenkreuz.
Wir haben diesmal mehr Glück als im letzten Jahr, als es hier in Strömen regnete. Ein herrlicher Blick bietet
sich uns auf die umliegenden Berge und weit in die Meseta. Am Fuß der Berge erkennen wir noch gerade Astorga.
Fototermin am Kreuz. Steine werden abgelegt. Alles, was im letzten Jahr zu kurz gekommen ist.
An der kleinen Kapelle sammeln wir uns und machen uns Gedanken darüber was es bedeutet, sich auf den Weg machen.
Auf unseren eigenen Füßen werden wir wieder unterwegs sein. Diese 8 oder 10 Tage, die wir unterwegs sein werden
auf dem Jakobsweg sind ein symbolisches Stück Leben. Vieles, was das Leben ausmacht, werden wir auf diesem kurzen
Wegstück wieder ganz neu begreifen, erleben im wahrsten Sinne des Wortes.
Noch 10 km mussten wir jetzt steil abwärts fahren, man kann fast sagen abenteuerlich, um El Acebo zu erreichen,
nachdem wir die 'idyllische' Herberge in Manjarin passiert hatten. ½ 4, die Autos sind abgestellt, die Wanderschuhe
angezogen, der Rucksack aufgenommen, noch ein Stempel im Meson El Acebo, dem gastlichen Haus aus dem letzten Jahr
im großen Regen, dann konnte es losgehen. Endlich! Es war wirklich wie eine Befreiung nach der unendlichen Anfahrt
quer durch ganz Frankreich bis in diesen westlichsten Zipfel Spaniens. Die Straße unter den Füßen, geradeaus ein
herrlicher Blick auf die fruchtbare Landschaft des Bierzo, in der Ferne im Tal Ponferrada, unser heutiges Tagesziel.
15 km bergab, das müsste eigentlich locker zu schaffen sein.
Zuerst ein gutes Stück auf der Landstraße, dann durch heideartiges Gelände, kommen wir nach einer guten halben
Stunde zu dem kleinen Weiler Riego de Ambros. Viel Neues mischt sich mit Altem, es gibt ein Refugio für die
Pilger, ein kleines Kapellchen; das abgelegene Dörfchen macht einen sehr schönen gepflegten Eindruck. Viele
Häuser sind aus dem für die Gegend typischen dunklen Granit erbaut. Schwere Steine, teilweise auch in dünnen
Schichten aufeinander gelegt, im Obergeschoss meist mit einem an der ganzen Hausfront entlang reichenden
vorgelagerten hölzernen Balkon geben den Häusern ein typisches und schmuckes Aussehen. Schon in El Acebo
waren die Häuser im gleichen Stil erbaut, und dieser Stil wird uns auch am nächsten Tag auf unserem ganzen
Weg durch das Bierzo begleiten. Die Bar, die zum Verweilen einlädt, lassen wir diesmal auf der rechten Seite
liegen. Im Zentrum des Dorfes sitzen Alt und Jung beieinander, beschließen bei einem Schwätzchen die Woche.
Durch einen schmalen Graben, der steil abwärts führt, verlassen wir das Dorf. Der Abstieg ist nicht ungefährlich;
das Schiefergestein liegt offen. Ist es vom Wasser so blank gescheuert oder waren es die Stiefel der vielen
Hunderttausend Pilger, die vor uns darüber hinweg gegangen sind? Es ist schon bald 5 Uhr, es hängen zwar
immer noch schwere Wolken über uns, aber dazwischen scheint immer wieder auch die Sonne. Es sieht aus, als
hätten wir heute Glück mit dem Wetter.
Wir begegnen einem alten Ziegenhirten, der seine Herde in einem unwirtlichen, steilen und felsigen, von
Dornenhecken übersäten Gelände weiden lässt. Um 5 Uhr taucht vor uns, sicherlich noch 2 km entfernt, in
einem kleinen Talkessel Molinaseca auf. Wunderschön sieht das Städtchen aus der Höhe aus, alle Häuser,
auch die Kirche, mit Schiefer gedeckt, eng ducken sich die Häuser zusammen, wie um sich gegenseitig zu
schützen und zu wärmen. In der kleinen Kapelle der Virgen de las Angustias erhalten wir unseren Pilgerstempel,
überqueren auf der alten romanischen Brücke den Meruelo und erreichen die lebhafte Calle Real, bis vor kurzem
Calle de los Peregrinos. Am Ortsausgang, gerade haben wir die große und bereits voll belegte Pilgerherberge
passiert, bekommen wir den ersten Regen. Regen ist etwas zu viel gesagt, es tröpfelt ein wenig und kann uns
nur wenig anhaben. Nach kaum 10 Minuten hört es auf. Ob uns der Regenbogen über den Montes de Leon Gutes verheißt,
wir werden es sehen. Zu unser aller Freude tauchen plötzlich an unserem Weg Weintrauben auf, die ersten, seit wir
das Rioja verlassen haben. Es heißt, mit den Wanderstöcken dürfe man auch Früchte von den Bäumen schlagen, aber
ob man auch Früchte abschlagen darf, die praktisch auf dem Boden wachsen? Aber es geht auch ohne Stock. Ein paar
Trauben, die offensichtlich extra für die Pilger am Wegesrand stehen gelassen werden, sind uns höchst willkommen.
Gegen ½ 7 erreichen wir die ersten, etwas außerhalb liegenden Stadtteile von Ponferrada. Hier und da ein
Swimming-Pool oder ein Tennisplatz im Garten lassen darauf schließen, dass hier der ärmere Teil der Bevölkerung
residiert. Noch fast eine Stunde benötigen wir bis an den Rand des Zentrums. Mit etwas Glück ergattern wir
gerade ein Taxi, das unsere 4 Fahrer wieder zurück nach El Acebo bringt, von wo es in einer wunderschönen
Fahrt wieder zurück in die Stadt geht. Nach einigen Mühen - noch ein Kreisel - noch eine Einbahnstraße -
wieder der Kreisel von vorhin - nochmal eine Runde durch die ganze Innenstadt - erreichen wir glücklich das
Hotel DEL TEMPLE. Das Gepäck wird entladen, es beginnt die etwas schwierige Parkplatzsuche, aber um ½ 9 sind
alle versorgt auf ihren Zimmern, und um 9 - genau zur landesüblichen Zeit, wollen wir uns zum Abendessen treffen.
Ein langer, ereignisreicher Tag liegt hinter uns, der Anfang ist geschafft. Wir sind auf dem Weg.
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