Sonntag, 30.9.2001 -
Von Ponferrada nach Villafranca del Bierzo (24 km)
Bis weit in die Nacht wurde gefeiert im Hotel del Temple in Ponferrada. Nein, es waren nicht die Jakobspilger,
die die Nacht zum Tag gemacht haben. Eine Hochzeitsgesellschaft hatte sich gestern Abend hier eingefunden, und
es hatte lange gedauert, bis das Fest zu Ende war. Trotzdem erscheinen alle unsere Jakobspilger frohgemut und gut
gelaunt um 8 Uhr zum Frühstück. Nur Walter erlebt beim Packen seines Autos eine unangenehme Überraschung: Der
Mercedes Stern seines Wagens ist herausgerissen, hängt aber noch an Stahldrähten fest. Vollends abmontieren und
einstecken; eine andere Wahl hat er nicht.
Noch ist es leicht bewölkt heute Morgen. Wir müssen die Industriestadt Ponferrada passieren. Es ist Sonntag,
trotzdem herrscht ein reger Stadtverkehr. Der Weg ist mühsam über Asphaltstraßen, vorbei an nüchternen Hochhäusern,
Supermercados, Gewerbegebieten. Autoabgase müssen wir einatmen beim Gehen durch nicht enden wollende Vororte.
Fuentesnueva heißt einer davon, auf dem Kirchturm ein großes Storchennest.
Wann endlich haben wir Ponferrada hinter uns? Um 10.30 Uhr sind wir in Camponaraya. Die Sonne bringt uns ins
Schwitzen. Der Weg durch die stark frequentierten Vorstadtstraßen ist anstrengend. Wir gönnen uns eine kurze
Rast auf dem Bürgersteig.
Ein Haus steht neben dem anderen. manchmal auch mit Vorgarten, meterhohes Gemüse wächst dort, Tomaten, roter
Paprika, Rosen, Pergolen mit Weinreben, Palmen, dazwischen ab und zu ein paar Hühner, ein krähender Hahn, alles
traulich vereint, nicht gerade gepflegt. Natürlich wohnen auch hier Störche auf dem Kirchturm, gleich zwei
Familien. Als Graffiti ist auf Wänden immer wieder zu lesen: Bierzo sin Leon (Bierzo ohne Leon) ein Stück
modernes Spanien. Die Straße zieht sich und zieht sich, schließlich erreichen wir um 11.30 Uhr das Ende des
Ortes und bei der Winzergenossenschaft einen schönen Pilgerrastplatz. Bettinas Blasen werden behandelt, Rucksäcke
nach Essbarem durchsucht und Flaschen mit frischem Wasser aus der Quelle gefüllt. Wir sind froh, endlich von der
Straße runterzukommen. Nur noch eine Brücke über die Autobahn, nun geht es hinaus in die offene Landschaft.
Vor uns liegt das Bierzo, so wie es überall beschrieben wird: ein flacher, grüner Talkessel, rundum schützend
umgeben von mächtigen Bergen, eine wasserreiche, fruchtbare Gegend. Saftige Wiesen, Gemüsegärten,
Apfelbäume und ganz viel Rebstöcke begleiten uns. Eselchen ziehen kleine, alte Holzkarren über die
Feldwege. Anhänger, mit Folie ausgeschlagen, werden beladen mit reifen Trauben. Es ist Erntezeit.
Unser Pilgerweg führt mitten durch das Weinbaugebiet des Bierzo. Der Wein, der hier reift, ist nicht so bekannt
wie die Weine der Rioja, die wir im vorigen Jahr kennen gelernt haben. Wir prüfen schon mal die Qualität der
Trauben. Sie schmecken herrlich frisch, sind süß und sonnenwarm.
Vor uns am Horizont sehen wir einen hohen Gebirgszug, dem wir immer näher kommen. Morgen müssen wir über diese
Berge. Dort drüben liegt der Cebreiro und dahinter Galicien, das von den Pilgern heiß ersehnte Land des hl.
Jakobus. Auch für unsere Pilgergruppe ist es das Ziel unserer 7-jährigen Wanderung, aber auch leider das Ende
unserer Jakobspilgerschaft. Nein, nicht solche Gedanken! Noch liegen über 200 km vor uns bis Compostela, die
wollen auch noch erlebt werden, und heute ist ein wunderschöner Tag.
Bei strahlendem Sonnenschein erreichen wir Cacabelos. Beatrix verteilt Trauben! Sie hat eine Spanierin getroffen
mit einem übervollen Eimer erntefrischer Trauben, und ganz freiwillig hat sie Beatrix einige davon geschenkt.
Cacabelos ist ein lebhaftes Städtchen, ein Ort mit schmalen Sträßchen, Balkone und Fenster geschmückt mit vielen
bunten Blumen. "Plazullas de las Flores" lese ich auf einem Straßenschild. Viele Häuser sind sehr schön im alten
Stil restauriert, doch immer wieder sieht man Hinweise SE VENDE an schon ziemlich zerfallenen Gebäuden. Durch enge
Gässchen vorbei an der Kapelle San Roque kommen wir zum Rio Ma, der durch das Städtchen fließt. Es ist sehr heiß,
wir haben Hunger und sind rechtschaffen müde. Vor der großen Brücke, seitlich von der Straße, entdecken wir einen
kleinen Park mit Bänken, grüner Wiese und Schatten spendenden Bäumen direkt am Flussufer. Kann ein Pilger sich
noch etwas Schöneres wünschen? Geschwind sind Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Ein Sonnenbad, ein Schläfchen auf
der schattigen Wiese oder Kaffee trinken in der Calle el Parque - für jeden wird etwas geboten. Mit Hilfe von
Wolfgangs Wanderstöcken kneippe ich im kniehohen Flüsschen. Wunderbar erfrischend ist das kühle Nass! Ganze
Fischschwärme huschen über die rutschigen Steine. Eine Libelle ist erbost über mein Tun und fliegt einige
aggressive Runden. Beim Aufbrechen gesteht uns Karolin, dass sie sich einen Lebenstraum erfüllt hat, wie ein
Penner habe sie auf einer Parkbank geschlafen. "Hier bin ich Mensch - hier darf ich's sein", es sind die kleinen
einfachen Dinge, die auf dem Camino zum froh machenden Erlebnis werden.
Gleich hinter der Brücke ist die städtische Pilgerherberge. Dort gehen wir auf Stempelsuche. "Luxuspilger" nennt
uns die stempelnde Dame, als sie in unserem Pilgerausweis die Eintragung vom 4-Sterne-Hotel Del Temple in
Ponferrada entdeckt.
In Cacabelos ist Markttag. Rund um die leider geschlossene Kirche kann man einkaufen:
Lederwaren, bunte Shirts und Kleider, Keramik und vieles mehr. Wolfgang interessiert sich für die großen
Kupferkessel, oder hat es ihm die charmante Marktfrau angetan? Wir kommen so richtig in die Mittagshitze
hinein, die Sonne brennt unbarmherzig. 220 km bis Santiago belehrt uns ein Verkehrsschild. Wir müssen bergauf
über die sonnenheiße Landstraße. Nur ganz selten finden wir am Straßenrand einen Feigenbaum oder einen Obstbaum,
wo wir im Schatten kurz verschnaufen können.
"Hola" - ein junger Pilger holt unsere Gruppe ein. Wir kommen mit ihm ins Gespräch. Aus Blieskastel ist er!
Bereits drei Monate pilgert er auf dem Jakobsweg. Nun hat er es sehr eilig, Compostela zu erreichen. Sein Geld
geht ihm aus, und zu Hause wartet ein neuer Arbeitsplatz auf ihn. Es ist schön, ein paar Worte mit freundlichen
Pilgergefährten zu wechseln. Bald erreichen wir auf der Anhöhe Pieros. Ein milder, erfrischender Wind kommt uns
entgegen und macht die Hitze erträglicher. Herrlich ist der Blick von hier oben über die Weinberge runter auf
das Städtchen Villafranca. Unser Tagesziel liegt sichtbar vor uns. Wir machen Rast in den Weinbergen und hören
von Toni eine Meditation: Es geht um Lasten. Lasten, die das Leben uns mitgibt, Lasten, die wir uns selber aufladen.
Welche Last trage ich, wachse ich daran oder erdrückt sie mich? Ein steiniger Weg führt bergab durch die herbstlich
bunten Weinberge, bestens geeignet zum Rosenkranzgebet. Wir kommen Villafranca immer näher, eine von fränkischen
Pilgern im 11. Jahrhundert gegründete Siedlung. Das Städtchen liegt inmitten von Obstplantagen und Weinbergen im
Tal des Rio Burbia, am Fuße des Gebirges, das uns noch von Galicien trennt. Die Pilger vergangener Zeiten, die bis
hierhin gekommen waren, blickten erneut auf hohe, unwegsame Berge. Viele gaben hier auf. Sie konnten einfach nicht
mehr weiter. Die bedeutendste Kirche des Ortes ist die kleine Santiago-Kirche am alten Jakobsweg, ganz am Anfang
von Villafranca. Sie war ein lang ersehntes Pilgerziel. Wenn die kranken und erschöpften Pilger durch das reich
verzierte Nordportal des Kirchleins, die "Puerta del Perdon" einzogen, erlangten sie den gleichen vollkommenen
Ablass, den sie auch in Santiago erhalten hätten. Die Worte Jesu von der Tür wurden hier Wirklichkeit: "Ich bin
die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden." Die mittelalterlichen Pilger hatten eine andere
Vorstellung als wir von Schuld und Sühne.
Uns gelingt es nicht, so einfach unsere Sünden loszuwerden, da diese Pforte geschlossen ist. Sie wird nur in dem
Jahr geöffnet, in dem der 25. Juli, der Festtag des Hl. Jakobus, auf einen Sonntag fällt. Wir betreten das
Kirchlein durch das Westportal. Und was ist nun mit unseren schwarzen Seelen? Seit alten Zeiten spricht man
von einer magischen Kraft dieses Ortes und seiner Kirche aus grauem Gestein.
Natürlich finden wir in dem schlichten romanischen Gotteshaus Santiago mit Pilgerstab und Muschel an seinem
Hut. Mit unserem Laudate omnes gentes sagen wir Dankeschön für das Erreichen dieses Zieles und die vielen
Freuden des Jakobsweges. Wir lassen uns den Pilgerausweis stempeln, und weiter geht es über holpriges Eierpflaster
vorbei an einer wuchtigen Burg aus dem 15. Jahrhundert mit runden Ecktürmen hinab in die Stadt.
Ein freundlicher Spanier meint es gut mit uns, er möchte uns den Weg zeigen zur Pilgerherberge, wo 16 müde,
strapazierte und verschwitzte Pilger mit Rucksäcken und Wanderstöcken eigentlich hingehören würden. Wir lehnen
dankend ab, schließlich sind wir "Luxuspilger". Unsere Zimmer sind bereits im 3-Sterne- Parador von Villafranca
bestellt, wo wir gegen 16.50 Uhr eintreffen. Tonis Auto fährt mit 4 Fahrern zurück nach Ponferrada, um die
anderen Autos nachzuholen. Ca. 18.00 Uhr kommt unser Gepäck mit der Hiobs-Botschaft von Beatrix: Tonis Auto
muss in die Werkstatt, es "stottert".
Geduscht, geschniegelt und gestrählt treffen wir uns um 19.30 Uhr, um zu Fuß in die Kollegiatskirche, eine
Marienkirche aus dem 16. Jahrhundert, zu gehen. Dort hat Beatrix uns angemeldet, wir dürfen mit Toni unsere
Sonntagsmesse feiern. Im Anschluss an den Gottesdienst macht uns der Pfarrer dieser Kirche, gedolmetscht von
Beatrix, aufmerksam auf die Kostbarkeiten seiner dreischiffigen Kirche mit Kuppelgewölbe.
Unser Heimweg zum Parador führt uns vorbei an der Kirche San Nicolas, ganz im Zentrum des Städtchens. Es ist
ein schöner warmer Sommerabend. Ein Springbrunnen plätschert auf dem kleinen, zum Teil mit Arkaden umgebenen
Platz unterhalb der Nikolai-Kirche. Wir können nicht nein sagen zu den einladenden kleinen Bars und Cafés.
Unterwegs haben wir die Trauben probiert, wir sollten auch wissen wie der Bierzo-Wein schmeckt. Schnell rücken
wir ein paar Tische und Stühle zusammen. Wir genießen die Abendstimmung, wir feiern das Unterwegssein. Beatrix
meint, es sei genau wie zu Hause: "Zuerst geht's in die Kirch' und dann zum Frühschoppen." Wolfgang hat die
Lacher auf seiner Seite, als er Walter empfiehlt, statt des fehlenden Mercedes-Sternes doch eine Jakobsmuschel
auf dem Kühler seines neuen Daimlers zu montieren. Regina, mit einem Glas Veterano in der Hand - wirft sie alle
ihre Prinzipien über Bord? Nein, sie lässt sich nur ein wenig von dem Duft betören. Schade, dass wir schon
aufbrechen müssen, um 21.00 Uhr gibt es Abendessen in unserem Parador.
Gegen 23.30 Uhr kommen die armen, geplagten Jakobspilger endlich zur Ruhe. Es war ein richtig schöner Camino-Tag,
in den alles hineingepackt war, was man sich nur wünschen kann. Es war ein Wander-Pilger-Frohsein-Tag! Buenas
noches - erholt euch gut, morgen heißt es "auf nach Galicien!"
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