Mittwoch, 1. Oktober 2008
von La Châtre nach Neuvy-St. Sépulchre

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$bb-01$ Als ich an diesem Morgen die Fensterläden an unserem Zimmer im Hotel 'Le Chopin' öffnete - was gar nicht so einfach war, denn sie waren sicherlich seit Jahren fest verschlossen und der Riegel eingerostet - sah ich die Bescherung: Es regnete. Kräftig. Schon gestern hatten wir Regen erwartet, aber der kräftige Wind hatte die Wolken immer wieder vertrieben.

Über die Dächer kann ich den Turm der Kirche St. Germain sehen, vor mir liegt die aus der Stadt hinausführende Hauptstraße. Beim Hinuntergehen werfe ich vom Balkon noch einen Blick auf die Gartenterrasse Le Jardin G. Sand, die einen etwas verwahrlosten Eindruck macht, aber man sagte uns gestern, dass das ganze Haus z.Z. renoviert wird.

Das Frühstück in der dunklen Kneipe ist so reichhaltig wie immer: Baguette mit Marmelade und Croissants, dazu Kaffee, der Tote erwecken könnte. Am Abend zuvor noch hatte der Wirt ein Bild Chopins als ein Jugendbildnis von sich ausgegeben, und auf meinen Einwand, dies müsse aber schon sehr, sehr, sehr lange her sein, hatte mir androht, dies würde er mir noch heimzahlen. Heute Morgen gab er sich jedoch alle Mühe, uns unseren kurzen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, aber das hatten wir nach der freundschaftlichen Frotzelei auch nicht anders erwartet.

Um 1/2 9 Uhr sind wir endlich abmarschbereit. Die Straßen sind zwar noch nass, aber es hat aufgehört, zu regnen. Wir gehen nicht sofort stadtauswärts sondern machen noch einen Umweg durch das Stadtzentrum, um noch Brot für den Tag einzukaufen. Heute ist so ein Tag, an dem man eine warme und nach allen Leckereien duftende Bäckerei überhaupt nicht mehr verlassen möchte, aber wir müssen uns schließlich doch auf den Weg machen. Vorbei am Rathaus, über einige schön gestaltete Plätze und durch die schöne Avenue Georges Sand erreichen wir bald den Rand der ansehnlichen Kreisstadt. Die Namen der bekannten Schriftstellerin und ihres weltberühmten Liebhabers sind in dieser Gegend wahrhaft allgegenwärtig, und fast jedes Dorf und jede Stadt schmückt sich damit, selbst wenn einer der beiden auch nur einmal einen Kaffee dort getrunken hat.

In den Außenbezirken der Stadt verpassen wir einmal die richtige Straße und laufen einen Block zu weit, gehen zurück, um ein paar Minuten später festzustellen, dass wir auch hätten weitergehen können. Wir müssen noch eine endlos scheinende Straße an einem Schul- und Sportzentrum hinter uns bringen, dann sind wir endlich auf freiem Feld. Beim Übergang über eine stillgelegte Bahnstrecke begegnet uns ein alter Mann mit einem noch älteren Fahrrad. Er hätte noch viel zu erzählen, aber schließlich radelt er doch langsam davon, nicht ohne uns noch einen guten Weg und besonders besseres Wetter zu wünschen.

$bb-02$ Nach einer Stunde Marsch nähern wir uns dem Ort Vauvet. Toni stellt fest, dass der im Pilgerführer beschriebene Weg nicht nach Sarzay führt. Die dortige - soll sehenswert sein, und nachdem wir festgestellt haben, dass es auch einen Weg über Sarzay gibt, der kaum weiter ist als der ausgeschilderte Weg, wählen wir diese Alternative. Wir passieren den kleinen Weiler Vauvet und treffen zu unserer Überraschung oberhalb des Ortes auf einen kleinen Weinberg. Es ist nur ein kleines Feld, der erste und einzige Weinberg, den wir auf unserem Weg antreffen, offensichtlich ein Liebhaber, der hier, fernab von allen Weinanbauregionen, Wein anbaut. Die blauen Trauben schmecken köstlich, aber da es sich nicht um bei der Lese übrig gebliebene Trauben handelt sondern um die ganze Ernte, belassen wir es bei einer kleinen Kostprobe; wir wollen dem Hobby-Winzer keinen Schaden machen.

Wir wandern über einen kleinen Höhenzug, und der Blick geht weit über das hügelige Land. Weit im Hintergrund bleibt La Châtre am regenverhangenen Horizont zurück. Nach dem Bauernhof Montville fällt der Weg ins Tal des kleinen Flüsschens Bellefont, um danach wieder steil anzusteigen. Immer wieder zwingen uns schöne Ausblicke über die Landschaft oder Blumen am Wegesrand zu kurzen Stops. Insbesondere die Disteln in ihrer spröden Schönheit haben es Toni angetan, und mehr als einmal kniet er am Straßengraben, um eine schöne Aufnahme zu machen.

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In der Zwischenzeit hat es mal wieder angefangen zu regnen, aber endlich, es ist jetzt 11.00 Uhr, treffen wir in Sarzay ein. Schon von Ferne erkennen wir die wuchtigen Türme der mittelalterlichen -anlage. Wir haben knapp 9 km zurückgelegt, Zeit für eine Pause, für die sich das Schloss geradezu anbietet.

$bb-05$ Das Schloss - mehr eine mittelalterliche Burg - mit seinem mächtigen, von fünf Wehrtürmen umgebenen Wohnturm entstand in der Mitte des 14. Jahrhunderts in vorderster Verteidigungslinie des französischen Königreichs gegenüber Aquitanien, das zu jener Zeit zu England gehörte. Der gesamte Bereich war früher von einer Ringmauer mit 38 Türmen und 3 Zugbrücken umschlossen und widerstand allen Belagerungen durch die Engländer im Hundertjährigen Krieg, den Religionskriegen, der Fronde und der Revolution. Erst durch die Entwicklung der Artillerie verlor sie ihre Bedeutung und ihren wehrhaften Charakter. Seit Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts gehört das Schloss einem Privatmann, der es vor dem weiteren Verfall zu retten versucht und dabei nicht nur keine Unterstützung durch die staatlichen Stellen erfährt, sondern von diesen in unglaublicher Weise an seinen Bemühungen behindert wird. In den Nebengebäuden befindet sich heute ein Festsaal für Familienfeiern, eine Pilgerherberge sowie Gästezimmer.

Wir lassen uns, unbehelligt von den Besitzern, in einem offenen Geräteschuppen nieder und genießen unsere Frühstückspause. Auf eine Besichtigung des Schlosses müssen wir leider verzichten, da uns hierzu die Zeit fehlt.

Um 1/2 12 brechen wir schließlich wieder auf. Ein schöner Wegweiser weist uns auf einen ebenso schönen Grasweg. Zeit und Gelegenheit für unser Rosenkranzgebet; es bringt uns schnell wieder auf Trab, und nach etwas mehr als einer viertel Stunde treffen wir wieder auf den 'Original-Weg' aus unserem Pilgerführer. Nachdem wir eine kleine Brücke passiert haben gelangen wir nach Vignonnet. Ein schönes, mit Blumen geschmücktes Wegkreuz begrüßt uns am Ortseingang. Als wir mitten im Ort sind, fängt es an zu regnen; es schüttet wie aus Kübeln, und Toni entdeckt einen überdachten Hauseingang, wo wir uns unterstellen können. Gott sei dank hört der Regen so unvermittelt wie er begonnen hat, wieder auf, und wir können weiterziehen. Von einer Anhöhe oberhalb des Dorfes, sie heißt nicht zu Unrecht Bellevue, geht unser Blick noch einmal zurück. In der Ferne sehen wir noch einmal das Schloss von Sarzay, das die weite Landschaft beherrscht.

$bb-06$ Wir erreichen Montabin. Seit unserer letzten Pause sind wir zwar erst seit 1 1/2 Stunden unterwegs, aber Toni hat schon wieder Hunger. Wir entdecken eine offene Scheune, und da uns beim Läuten an dem danebenliegenden Wohnhaus niemand öffnet, gehen wir durch den Garten und lassen uns nieder. Toni entdeckt einen alten Stuhl, Brigitte und Renate machen es sich auf einem Strohballen bequem und ich selbst finde Platz auf einem alten Balken; es ist zwar nicht das Café de la Paix, aber es ist trocken und wir haben schon schlechtere Rastplätze gehabt. Eine 3/4 Stunde rasten wir, dann brechen wir wieder auf. Beim Weggehen bewundern wir noch die schönen Blumen im Garten, verschließen das Tor ordnungsgemäß, dann geht es auf einem kleinen Sträßchen weiter, und nach kaum einer viertel Stunde kommen wir zur ehemaligen Abtei Varennes. Wir können nicht erkennen, ob man die Stätte besichtigen kann, stöbern ein wenig herum und entdecken, dass die Gebäude offensichtlich privat genutzt werden. Beim Weitergehen entdecken wir auch den Eingang zur Klosterkirche, aber sie ist leider verschlossen.

Die ehemalige Zisterzienserabtei Notre Dame de Varennes wurde in der Mitte des 12. Jahrhunderts von Déols aus gegründet und erlebte ihre Blütezeit in den folgenden 2 Jahrhunderten durch die Pilgerschaft nach Santiago de Compostela. Nach den unruhigen Zeiten des Hundertjährigen Krieges, der Religionskriege und der Fronde führte die Revolution zu ihrem endgültigen Untergang. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Landwirtschaft genutzt - die Kirche diente als Kuhstall und Scheune - wird der Komplex seit 1980 wieder privat genutzt und von seinen jetzigen Eigentümern Stück für Stück restauriert. Aber es bleibt noch viel zu tun.

Weiter geht unser Weg; wir haben jetzt schöne Wege, kaum noch befestigte Straßen, gelegentlich mal ein Stückchen Wald, Felder und Weiden, mit weiten Ausblicken über das Land, oft haben wir aber auch sogenannte chemins creux, Hohlwege, wie kleine Alleen, zwischen Baum- und Heckenreihen, durch die man geht wie in einem Tunnel.

$bb-07$ $bb-08$ Wir sind fast am Ziel, aber wir brauchen nochmal eine kurze Pause. Zeit für ein paar Gedanken über Den Weg; ein Thema, das uns immer wieder beschäftigt. Die Wege; sie führen uns von einem Ort zum anderen, in andere Gegenden, andere Länder, zu anderen Menschen. Wege, die sind wie unser Leben: auf und ab, mal geradeaus, nicht zu verfehlen; manchmal aber auch verschlungen, mit Umwegen; schwer zu finden: geht es hier nach links? oder nach rechts? Manchmal müssen wir ein Stück zurückgehen. Wir müssen einen neuen Anlauf nehmen. Hier wird es uns wieder bewußt.

Endlich erreichen wir unser Tagesziel, Neuvy-St. Sépulchre. Durch den ganzen Ort ist der Weg durch bronzene Jakobsmuscheln im Boden markiert. Sie führen uns zu der Kirche, die dem Ort den Namen gegeben hat. Die heute dem heiligen Stephanus (St. Etienne) geweihte Kirche besteht eigentlich aus zwei Teilen: der rechteckigen Basilika im Osten, von der man annimmt, dass sie die eigentliche Kirche war, sowie dem Rundbau, der im Rahmen der Pilgerfahrten der Reliquienverehrung diente. Beide Teile entstanden wahrscheinlich gleichzeitig in der Mitte des 11. Jahrhunderts, aber es gibt Anzeichen, dass die beiden Gebäude erst im 13. Jahrhundert miteinander verbunden wurden.

$bb-09$ Die Entstehung der Kirche ist eng mit den Kreuzzügen verknüpft. Eude de Déols, der sich zwischen 1026 und 1028 im Heiligen Land aufhielt, soll ihr Gründer sein. Quellen berichten, er habe beim Anblick der Grabeskirche (franz. Saint-Sépulchre) in Jerusalem gelobt, eine Kopie dieses Baues in seiner Heimat zu errichten. Wir sind von dem Bauwerk tief beeindruckt. Ein wenig erinnert es mich an die Kapellen von Eunate und Torres del Rio, die vom Templerorden errichtet wurden und ebenfalls der Grabeskirche in Jerusalem nachempfunden sein sollen.

Das kleine Hotel 'La Charrette' (die Kutsche) empfängt uns neu renoviert. Unsere vermatschen Schuhe sträuben sich, das Zimmer mit dem fast weißen Teppich mit zu betreten. Die Dusche macht wieder ordentliche Menschen aus uns, wir können noch ein paar Minuten unsere Kopfkissen ausprobieren, dann treffen wir uns zu einem kleinen Bummel durch den Ort.

$bb-10$ Viel gibt es nicht außer der schon besichtigten Kirche. Wir gehen nochmals hinein und lassen uns von dem schönen romanischen Bauwerk bezaubern.

Wir finden eine Bäckerei, wo wir morgen früh frisches Brot kaufen können, kommen an dem Hotel vorbei, das wir als Alternative hatten und stellen befriedigt fest, dass wir eine gute Wahl getroffen haben, dann kehren wir ins La Charette zurück, wo einer der beiden jungen Inhaber für uns ein wunderschönes Menü zubereitet hat. Noch lange sitzen wir bei einem Glas Wein (oder waren es doch mehr?) zusammen, lassen den Tag noch einmal passieren, überlegen, wie es morgen weitergehen wird, dann geht es endlich in die Falle.

Manfred


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