Dienstag, 12.10.1999 - Von Belorado nach San Juan de Ortega - (ca. 24 km)

Für 7.45 Uhr haben wir uns verabredet an unseren Autos mit gepackten Koffern, aber ohne Frühstück. Im Hostal hier in Santo Domingo, wo wir zwei Nächte verbracht haben, gibt es in der Frühe keinen Kaffee. Die Bar gegenüber vom Hostal haben wir gestern Morgen kennen gelernt. Wir verpassen nichts, wenn wir sie heute Morgen meiden.

Ca. 20 km fahren wir bis Belorado, dort hat gestern unser Pilgerweg geendet. Gleich am Marktplatz bei der Kirche hat Beatrix gestern Nachmittag in einer Bar Frühstück für 12 Jakobspilger bestellt. Der Tisch ist gedeckt als wir ankommen. Es gibt Café con leche, Tee und frischen Orangensaft. Um 9.40 Uhr sind unsere Autofahrer zurück von San Juan de Ortega wo sie ein Auto stehen ließen. Traurig-trüb ist das Wetter heute Morgen, Sprühregen. Mir ist es auch nicht ganz wohl, ich hoffe, den Weg trotz meines geschwollenen Knöchels mitlaufen zu können. Nicht überlegen, einfach Schritt für Schritt gehen, morgens geht es immer noch am besten. „Frère Jacques, frère Jacques, dormez vous?“ So hört man die Jakobspilger durch das verschlafene Belorado ziehen. Ein kleines Stück Hauptstraße, Überquerung des Tirón, dann wandern wir über einen schmalen Pfad, ca. 4 km parallel zur N 120. Rechts am Hang in der Ferne sehen wir die Kapelle der Virgen de la Pena in Tosantos. Tosantos - Allerheiligen, der Name erinnert an zu Hause. Geschützt von Kastanienbäumen machen wir Rast an einer Böschung vor einer Kirche und hören von Toni unsere heutige Meditation: Himmel. „Dein Lob, Herr, ruft der Himmel aus“, nur heute Morgen ist sein Haus nicht blau und lichterfüllt, sondern grau verhangen. „Doch es geht auch ohne Sonne“ - singend machen wir uns Mut und ziehen weiter über Feldwege, durch kleine Orte, bis wir kurz vor Villafranca wieder auf die N 120 treffen.

Wir spüren die Nähe der Großstadt, Burgos ist nicht weit entfernt. Schwere Laster und Tankwagen donnern an uns vorbei. Wir sind froh, dass wir nur eine kurze Strecke auf dieser vielbefahrenen Straße laufen müssen. Über den Rio Oca erreichen wir schnell Villafranca Montes de Oca, ein alter Ort, der bis 1075 Bischofssitz war, aber heute sehr verlassen wirkt. Viele „Franken“, die auf dem Pilgerweg waren, ließen sich hier nieder, daher der Name des Ortes. Es regnet, der Wind bläst uns entgegen.

Villafranco Ein Glück, dass wir zufällig an der Hauptstraße mitten im Ort ein Refugio finden, um Mittagspause zu machen. Alles ist offen, Aufenthaltsraum, Schlafsaal, Toiletten, niemand ist da. Blanke Tische, kahle, schmucklose Wände, nur das Notwendigste, was ein Pilger so braucht. Aus unseren Rucksäcken kramen wir noch richtige Herrlichkeiten: Schinken, Grauwurst, Kekse, Äpfel, Bananen, Wasser und Brot. Helga und ich werfen prüfende Blicke in den Schlafraum mit seinen Etagenbetten - das Interessanteste sind wohl die Pilger, die abends hier zusammenkommen, da würde es sich schon einmal lohnen, abendliche RefugioAtmosphäre zu schnuppern. Was sind das für Leute, die auf dem Camino unterwegs sind, warum machen sie diesen Pilgerweg? Fragen, die ich für mich persönlich auch nicht so einfach beantworten könnte. In einer Ecke finden wir Besen und Schaufel. Wir kehren die gute Stube, die meisten Krümel sind gar nicht von uns. Zum Verweilen lädt diese Pilgerherberge nicht ein.

Um 13.40 Uhr ziehen wir weiter, einen holprigen Pilgerweg hinauf in die Oca-Berge, vorbei am Santiago-Hospiz und Herberge. Es gibt also noch etwas Besseres hier im Ort zum Übernachten. Diese Pilgerherberge sieht zumindest von außen bedeutend einladender aus. Gegenüber sehen wir die mächtige Santiago-Kirche, leider verschlossen. In ihrem Innern soll sich ein Taufbecken befinden, das aus einer riesigen Naturmuschel besteht, die von den Philippinen kommt. Im offenen Glockenturm kann man die Glocke sehen. Sie steht auf dem Kopf, sieht recht ulkig aus, widerspricht jeglichem Gesetz der Schwerkraft.

Unser Weg steigt bis zu einer Höhe von 1130 m, eine verlassene Gegend, eine herbe Landschaft mit Erika, Farnkraut und winzigen Eichen. Es regnet immer noch, eine richtige Waschküche. Im Regen und Nebel können wir nicht viel von der Umgebung erkennen.
Oca-Berge
Dunkle, dichte Wälder soll es früher hier gegeben haben. Diese Oca-Berge waren während der Jakobuswallfahrt gefürchtet. Viele Banditen und Wegelagerer sollen sich hier rumgetrieben haben in den damals schwer zugänglichen Wäldern. Aimeric Picaud, der im 12. Jahrhundert einen Pilgerführer zusammenstellte, schrieb, dass in dieser Gegend Tag und Nacht Pilger beraubt und ermordet wurden. Ein Wanderführer aus unseren Tagen warnt vor Wanderungen in diesen Bergen, wenn es nebelig ist. Wir verlassen uns auf die gelben Pfeile, die uns sicheres Geleit geben.

Ginster, Lavendel und Wachholder wachsen am Wegesrand. Regen und Nebel lassen diese Heidelandschaft trübe und traurig ausschauen. Sicher wäre es bei Sonnenschein eine schöne Landschaft. Aber muss es nicht solche Tage geben, damit wir die anderen noch mehr genießen?

Als wir den höchsten Punkt erreicht haben und es wieder bergab geht, sammeln wir uns zum Rosenkranzgebet. Ich muss Bernhard Recht geben, beim Beten kommen wir immer schneller voran, nur ich kann heute bei unserem Rosenkranz-Pilgerschritt nicht mithalten. Der Weg ist steinig. Wenn ich Karolins Wanderstöcke nicht hätte, würde ich ihn nicht schaffen. Sie sind mir unentbehrlich geworden! Sie verhalfen mir zur ersten Blase auf dem Jakobsweg - am kleinen Finger der rechten Hand. Alle sorgen sich um mich. Mir fällt auf, dass Manfred immer in meiner Nähe ist, obwohl er sonst zur Spitze unserer Pilgerschar gehört. Bernhard hat mir Karolins Wanderstöcke gegeben. Toni und Edgar haben mich mit heilenden Salben versorgt. Gert hat mich auf der bergigen Sonnenstrecke vor Santo Domingo gut „beschirmt“. Edgar und Manfred haben Gerts Rucksack getragen, als er eine große Strecke zurückging, um meine Brille zu holen, die ich bei einer Rast an einem Baum hängen ließ. Toni tröstet: „Nur noch eine Stunde, dann sind wir in San Juan.“ Es tut gut, echte, hilfsbereite Weggemeinschaft zu erleben. Trotzdem möchte ich nicht so umsorgt werden. Aber war nicht ich es, die in unserer „Aufbruch“-Messe in Roncesvalles beim Formulieren der Fürbitten sprach: „ ..... und lass uns aufeinander achten.“ Der Herrgott hat mich wieder einmal falsch verstanden, so habe ich es nicht gemeint. Ich habe an Geben, nicht an Nehmen gedacht.

Karin bleibt mit mir zurück am Ende der Pilgerschar. Es gefällt mir, mit ihr durch die einsame, nebelige Landschaft zu wandern, Gedanken auszutauschen. In einiger Entfernung vor uns erkenne ich nur schemenhaft drei unserer Jakobspilger. Einer von ihnen bleibt immer mal wieder stehen, schaut zurück, vergewissert sich, ob wir auch noch nachkommen. Keine Sorge, so schnell gehen wir nicht verloren!

Heute fühle ich mich richtig als „Peregrina“. Ich kann die Freude der früheren Pilger verstehen, die sie empfanden, als sie in San Juan de Ortega ankamen. Die gefährlichen Oca-Berge hatten sie hinter sich, das Land wurde wieder flach und hügelig, mit Wald und Feldern. Sie fanden Unterkunft und wurden gut versorgt in der Pilgerherberge, die San Juan gegründet hatte. San Juan war ein Schüler von Santo Domingo. Er war wie Santo Domingo einer der großen Wege- und Brückenbauer des Jakobsweges. Sein Sarkophag steht in der Krypta der romanischen Kirche. Innen ist diese Kirche mit schönen Kapitellen ausgeschmückt. Groß war die Erleichterung der Pilger, wenn sie Kirche und Brunnen erreichten. Mancher Pilger, der allein in dieser Gegend unterwegs war, vielleicht humpelnd wie ich, dürfte in diesen Bergen einfach verschollen sein.
San Juan de Ortega
Jetzt ist es 5 Uhr, auch ich bin froh, dass wir unser Tagesziel erreicht haben. Geneviève aus Nantes ist schon wieder vor uns da, sie übernachtet hier in dieser Pilgerherberge. Ich bewundere sie, weil sie ganz allein auf dem Camino ist und alles, was sie unterwegs braucht, in ihrem Rucksack mitträgt. Auch ihr Pilgerweg wird morgen in Burgos enden. Im kommenden Frühjahr möchte sie sich wieder auf den Weg machen und während eines Monats in einem Rutsch durchgehen bis Compostela. Wir verabschieden uns von ihr. Sie umarmt und küsst mich, eigenartig, wie Pilger aufeinander zugehen, so als würden sie sich schon lange kennen, und dann geht jeder wieder seinen eigenen Weg.

In der Pilgerbar haben wir nun Zeit zum Ausruhen, zum Kaffeetrinken, bis unsere Fahrer die Autos nachgeholt haben. Unsere Gedanken sind der Zeit schon wieder weit voraus. Ob wir es schaffen, in zwei Jahren Compostela zu erreichen, oder benötigen wir noch drei Jahre?

Schnell sind unsere Autofahrer zurück, und ab geht die Fahrt Richtung Burgos. In der Ferne, am Rande des Waldes ein Rudel Graukittel, die Toni mit Hupen verscheucht. Bald erreichen wir die Hauptstraße, Burgos liegt vor uns. Dort erwartet uns auch kein südliches Klima, es liegt 900 m hoch, aber viel spanische Geschichte. Von der Brücke über den Rio Arlanzón vor dem Arco de Santa Maria finden wir mit „Beatrix zu Fuß“ und Hotel-Lotse direkt ins Herz der Stadt. Unser Hotel „Meson del Cid“ an der Plaza Santa Maria liegt gleich gegenüber von der Kathedrale. Am Abend genießen wir von unserem Zimmer aus die beleuchtete Kathedrale, eines der eindrucksvollsten Bauwerke auf dem Jakobsweg.

Ein herrlich nass-kalter Umschlag für mein heißes Bein ist für mich heute wohltuender und wichtiger als der Vino tinto und die Köstlichkeiten der spanischen Küche, die uns beim Abendessen im Hotel El Cid serviert werden.

Brigitte

Meson El Cid
Jahresanfang Vortag Seitenanfang Meditation nächster Tag nächstes Jahr