Montag, 11.10.1999 -
Von Santo Domingo nach Belorado
Mitten in der Nacht (oder kurz danach, auf jeden Fall war es noch dunkel), Lärm und Klopfen an der Tür:
„Manfred, aufstehen!“ So ein M... Verpennt. Irgendetwas mit dem Wecker scheint nicht in Ordnung zu sein.
Der Tag fängt ja schon gut an. Aber ein Gutes hat es schon, wenn man erst aufsteht, wenn alle schon vor
der Türe stehen: die Dusche ist nicht besetzt. Jetzt aber Tempo. Zuerst müssen die Autos nach Belorado
geschafft werden, dann gibt es Frühstück in der BAR MARIA, gegenüber. Während die Bauern und Arbeiter an
der Theke mit einem Pastis (oder Rotwein) ihren Arbeitstag beginnen, nehmen wir im Nebenzimmer, der eine
sitzend, der andere stehend, unser Frühstück zu uns. Nicht gerade gemütlich, aber die Brötchen sind frisch
und knusprig, alle Zutaten fein, der Kaffee weckt Tote auf, was will der Pilger mehr. Nicht alle, die vor
uns auf dem Weg waren, hatten es so komfortabel.
Zunächst wollen wir die am Abend zuvor so plötzlich abgebrochene Besichtigung der Kathedrale fortsetzen
und über Motivationen nachdenken. Warum gehe ich diesen Weg? Noch zwei Tage werden wir in diesem Jahr
unterwegs sein. Warum lade ich mir so etwas auf? Was werde ich am Wochenende mit nach Hause nehmen und
für die nächsten Wochen und Monate und Jahre vom Jakobsweg bei mir haben? Was werde ich vom Jakobsweg
meinen Freunden und Bekannten weitergeben können? Was spricht mich auf dem Jakobsweg an? Der Weg? Die
Zeit? Die Landschaft? Das Wetter? Die Kirchen? Die Weggefährten? Die „zufälligen“ Begegnungen? Die
Bausubstanz der Ortschaften und Städte? Die Brücken? Die Pflanzen? Die Steine? Die Ruinen? Es ist
unendlich viel; wo ist die Mitte auf dem Jakobsweg für mich? Nicht die geografische. Was bleibt mir
auf dem Jakobsweg wichtig, oder ist neu wichtig geworden? Ich weiß es noch nicht.
Hahnenschrei in Santo Domingo |
Zurück. Unsere Besichtigung geht zu
Ende, und beim Verlassen der
Kathedrale kräht der Hahn! Wir haben es
wirklich erlebt, er lebt tatsächlich,
und wenn man genug Geduld hat (oder
Glück, wie wir), erlebt man es
wirklich. So gestärkt verlassen wir
kurz nach 9 diese Stadt, sicher eine der
berühmtesten oder bekanntesten
Stationen auf dem Jakobsweg.
Auf der Brücke, die der
Heilige vor fast tausend Jahren
errichtete, überqueren wir den Rio Oja. |
Das Flussbett ist fast ausgetrocknet, denn der Oja führt um
diese Jahreszeit nur sehr wenig Wasser, aber die Breite des Bettes lässt erahnen, welche Wassermassen
im Frühjahr hier durchrauschen können.
Es ist noch neblig und kühl, als wir nach einigen Kilometern die Hauptstraße verlassen. 623 km bis
Santiago zeigt das Straßenschild an, davon heute noch 20 km bis Belorado. Eine Schotterpiste steigt
langsam in Richtung Grañón an. Als wir die Anhöhe erreichen, löst sich die Sonne aus dem Nebel; es
wird wieder ein schöner Tag. Gegen 11 Uhr erreichen wir Grañón. Die monumentale, dem Heiligen Johannes
dem Täufer geweihte Pfarrkirche überrascht uns mit ihrem äußerst wertvollen Retabel, das in der Mitte
des 16. Jahrhundert entstand und erst kürzlich grundlegend restauriert worden ist. Mit seinen zahlreichen
Darstellungen ist es eine bildgewordene Heilsgeschichte.
Es sind noch einige Einkäufe zu erledigen, denn bei unserem Aufbruch in Santo Domingo waren noch alle
Geschäfte geschlossen. Um halb 12 geht es endlich weiter, wir haben erst 6 km zurückgelegt. Ein besonderes
Erlebnis ist uns noch beschert: Auf der Hauptkreuzung des Dorfes begegnen wir einem ‘Ausrufer’, wie in der
guten alten Zeit, dieser hier hat aber keine Schelle, sondern eine Trommel. Mit einem fulminanten
Trommelwirbel macht er die Bewohner auf sich aufmerksam: BEKANNT-MACHUNG! .............. (allerdings
auf spanisch); noch ein Trommelwirbel, und alle wissen Bescheid.
Eine Stunde, und wir erreichen Redecilla del Camino. Eine große Tafel verkündet uns, dass wir die Region
La Rioja verlassen und jetzt die Provinz Burgos und damit die Region Kastilien und Leon erreicht haben.
Direkt am Ortseingang lädt uns ein kleiner Rastplatz mit Tischen, Bänken und Brunnen zur Mittagsrast ein.
Leider ist die Kirche verschlossen, so dass ein Besuch im Augenblick nicht möglich ist.
Unser Pilgerführer gibt an, dass die restliche Strecke von hier bis Belorado, also 12 km, immer auf der
Nationalstraße verlaufen soll, nicht gerade eine Einladung. Brigittes Fuß ist immer noch nicht in Ordnung
und auch Tonis Knie mögen die langen Asphaltstrecken überhaupt nicht, und so wollen Brigitte, Wolfgang,
Toni und Beatrix von hier aus mit dem Auto nach San Millan de la Cogolla fahren und dort das Kloster mit
seiner berühmten Bibliothek besuchen. Dies gibt die Gelegenheit, auf den Messner der Kirche von Redecilla
zu warten, der bald die Kirche öffnen will. Während die Gruppe sich weiter nach Belorado auf den Weg macht,
gehe ich mit den Vieren, die die Tagesetappe hier beenden möchten, in die Kirche, die ein bildhauerisches
Kleinod besitzt, das zu den schönsten des Jakobswegs zählt: ein romanisches Taufbecken aus dem 12.
Jahrhundert. Das Warten hat sich wirklich gelohnt.
Ich verzichte auf die Einladung, mit dem Auto mitzufahren und spute mich, die vorausgegangene Gruppe
möglichst bald einzuholen, die eine gute halbe Stunde Vorsprung hat. In Viloria de Rioja sind wir
wieder zusammen, und es zeigt sich, dass unser Pilgerführer nicht mehr auf dem neuesten Stand ist.
Der Weg ist überwiegend neu ausgezeichnet und verläuft fast immer über Feldwege oder neue Flurbereinigungswege.
In Villamayor gibt es einen Brunnen und ein paar Bänke; wir können gar nicht anders, als eine kurze Rast
einzulegen. Leider ist auch hier die Dorfkirche verschlossen, so dass wir daran vorbeigehen müssen. Nur
noch eine knappe Stunde trennt uns von Belorado. Der Weg über die Felder ist angenehm zu gehen, und so
erreichen wir die Stadt gegen 4 Uhr. Auch hier ist am Ortseingang ein schöner neuer Rastplatz für die
Pilger hergerichtet, Gelegenheit, den zusammengeschrumpften Rest der Truppe zu sammeln, ehe es gemeinsam
in das kleine Städtchen geht.
An der Plaza Mayor werfen wir noch einen Blick in die Kirche San Pedro, ehe wir uns in einem kleinen
Straßencafé noch eine kleine Erfrischung gönnen. Dann geht es zurück nach Santo Domingo, wo wir noch
einmal eine Nacht in unserer Nobelherberge verbringen dürfen. Ein erstklassiges Abendessen in einem
schönen Restaurant entschädigt uns für die eine oder andere Unbill in Santo Domingo. Danke Beatrix.
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