Mittwoch, 13.10.1999 -
Von San Juan de Ortega nach Burgos
Schon ist eine der drei in Burgos gebuchten Übernachtungen, im genau gegenüber der Kathedrale liegenden
Hotel Del Cid, hinter uns gebracht. Doch vor uns liegt noch die letzte Etappe unseres diesjährigen
Wegabschnitts, die uns von San Juan de Ortega zurück nach Burgos führt.
Nachdem die Hotel-Tiefgarage uns 3 der 4 Autos wieder ausgespuckt hat, fahren wir ca. 20 km über die
Nationalstraße N 120 bis zur Abzweigung nach Santovia de Oca. Von dort führen uns die letzten 4,5 km
bis zum Sanktuarium von San Juan über eine sehr schlechte, holprige Straße.
Von dem Pilgerhospiz in San Juan wird gesagt, dass es Tradition, Geist und Atmosphäre des Apostels Santiago
am besten vermittelt. Außer der romanischen Klosterkirche, dem in den leerstehenden Klostergebäuden
eingerichteten Refugio und einer Bar gibt es sonst keine Häuser. Hier hat man sich ganz dem Dienst am
Pilger verschrieben. Die Kirche ist trotz der frühen Morgenstunde bereits geöffnet - im Gegensatz zu den
vielen anderen, zu denen wir auf unserem spanischen Weg bislang gekommen sind. Und erstaunlich viele sind
hier schon auf den Beinen und sorgen in dieser gewissen Einöde für reges Leben.
An den Autos überlege ich noch, welches Pilgergewand für diesen Tag wohl das sinnvollste sei - wird es
regnen, wird es kalt? Das Wetter präsentiert sich nicht so vielversprechend, es scheint sehr unsicher.
Ich wähle - Gott sei Dank - meine dicke Wachsjacke. Nach den ersten, wenigen Metern kommen wir bereits
an eine Gabelung, von der drei Wege nach Burgos führen. Wir wählen den goldenen Mittelweg, der uns nicht
an Straßen entlang führt, sondern über die Sierra de Atapuerca, eine schöne Hochebene der Montes de Oca.
Obwohl der Name Ortega, abgeleitet vom lateinischen urtiga soviel bedeutet wie unwegsames Gelände, geht
es zuerst durch Steineichen- und Pinienwälder, bevor wir auf offene Wiesen kommen. Da diese mit dickeren
und kleineren Kuhfladen regelrecht übersät sind, erfordert es beim Setzen der Schritte äußerste Konzentration.
Denn von der Höhe gibt es auch schöne Ausblicke in die Landschaft, die bei besserem Wetter und strahlendem
Sonnenschein sicher einer längeren Paparazzi-Pause bedurft hätten. Die Pause machen wir stattdessen am
Brunnen unter den Bäumen von Ages. Aus mehreren Rucksäcken kommen nicht nur Wasser und Proviant zum
Vorschein, sondern auch Salben und Verbände. Heute muss auch Gert sein Knie einreiben.
Das nächste Örtchen, durch das wir kommen, heißt Atapuerca. Schon aus einiger Entfernung sehen wir auf
der Höhe die Kirche. Das wäre ein schöner Ort für unsere Meditation am Morgen. So macht Manfred sich als
Vorhut auf, um zu erkunden, ob das Gotteshaus geöffnet sei. Nach einem Schnellkurs in Spanisch ist er
zwar gewappnet, um im Fall der Fälle nach dem Schlüssel zu fragen - doch die Antwort versteht er leider
nicht. So ziehen wir unverrichteter Dinge weiter. Hinter dem Ort biegen wir links auf einen steinigen
Weg, der uns steil bergauf führt. Oben angelangt, empfangen uns noch mehr Steine, die von vielen Pilgern
vor uns bereits zu unzähligen kleinen und größeren Pyramiden um ein Kreuz aufgetürmt wurden. Zwischen all
diesen Steinen ist es mühsam, die lediglich durch die gelbe Farbe hervorgehobenen Wegmarkierungs-Steine zu
entdecken. Denn von hier ab stimmen die Beschreibungen in den Führern nicht mehr mit dem tatsächlichen Weg
überein. Linkerhand liegt ein durch Stacheldraht eingezäuntes Gelände, rechts vor uns ein Steinbruch,
darüber die Masten der TelefonicaGesellschaft. Von diesen war in den Büchern zwar die Rede, aber an anderer
Stelle; demnach sind wir nicht ganz falsch. Auf halbem Weg den Hang hinunter halten wir, um unsere Meditation
im Freien stattfinden zu lassen: weit und breit ist kein Baum oder Strauch, kein Haus und nicht die kleinste
Hütte in Sicht, und damit auch kein windgeschütztes Fleckchen. Es ist ziemlich ungemütlich im Stehen, nur
Edgar ergattert einen dicken Stein-Hocker und zieht sich ganz in sein rotes Regencape-Schneckenhaus zurück.
Weiter geht es anhand der gelben Steine etwas südlicher als beschrieben den Hang hinab, Richtung Villalval
und Cardenuela. Endlich rasten wir zur Mittagspause. Groß ist die Auswahl nicht: doch vor einer Hand voll
Häuser finden wir Bänke (die leider fest verankert sind) und einen Tisch, an dem allerdings nicht alle
Platz haben. Plötzlich bricht ein Schauer über uns herein. Auch die Auswahl an Unterstellmöglichkeiten
ist nicht groß. Doch Karin, Bernhard, Regina, Walter und Gert sind nicht verlegen, zücken ihre Regenschirme
und setzen das Picknick unter Schirmen an ihrem feudalen Tisch fort. Das Mahl währt heute leider nicht
so lange wie sonst, es ist uns doch zu ungemütlich, zu kalt und zu nass. Einstimmig brechen wir nach
kurzem wieder auf und laufen von nun an auf geteerten Straßen weiter Richtung Burgos. Das erleichtert
bei diesem Wetter auch unser Rosenkranzgebet.
Dafür wird extra gewartet, bis alle schön versammelt sind: auch die Ausreißer, die kurz mal hinter den
Büschen verschwinden mussten.
Wir passieren ein verlassenes Militärgefängnis und kommen zu einer Großbaustelle. Eine fast vollendete
Brücke führt uns über schlammige Baustellenstraßen in einem weiten Bogen nach Villafria. Dort empfangen
uns viele Ampelanlagen, komplizierte Straßenübergänge und gefährliche Kreuzungen. Nicht nur ich verlange
nach einer Pause. Ich verspüre Durst und Hunger und brauche dringend eine Toilette. Anderen geht es ähnlich.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite angelangt, stehen wir vor einer Art Cafeteria oder Bar - so schnell
sind meine Wünsche noch nie in Erfüllung gegangen. Doch das Lokal hätte eher die Bezeichnung „Räucherkammer“
verdient, und so bleiben wir zum Rasten draußen, direkt neben einer Bushaltestelle, wie Toni leider zu
spät bemerkt. Denn während einige noch auf der Toilette sind, fährt ein Bus Richtung Burgos City.
Auch wenn der Weg von Villafria nach Burgos nur noch entlang der 6-spurigen Nationalstraße N 1 und durch
hässliches Industriegebiet führt, wollen einige nicht in den Bus umsteigen und wechseln stattdessen
lieber die Straßenseite. Helga, Brigitte, Wolfgang, Toni und ich versuchen in Erfahrung zu bringen,
wann der nächste Bus Richtung Stadtmitte fährt. Bushaltestellen gibt es genug, fast hinter jeder großen
Kreuzung, doch ohne Busfahrpläne oder Abfahrtszeiten. Endlich kommt der ersehnte Bus, der uns in einer
unendlich vorkommenden Fahrt bis zur Endstation, der Plaza del Cid an den Rand der Altstadt bringt.
Unterwegs, im Vorort Garmoral, entdecken wir die tapferen Fußpilger, die eisern durchhalten.
An der Endstation steht das grandiose Reiterstandbild des spanischen Nationalhelden El Cid. Von dort
müssen auch wir die letzte Etappe zur Kathedrale zu Fuß zurücklegen, es gibt keine andere Möglichkeit,
durch die engen Altstadtgassen zu kommen. Vor der Treppe, die zum Seitenportal der Kathedrale führt,
erwartet uns bereits ein Jakobspilger: kunstvoll in Bronze gegossen und beliebtes Fotomotiv für die
zahlreichen Burgos-Touristen. Als wir uns neben der armen Kreatur auf der Bank niederlassen, werden
die Pilger aus Fleisch und Blut schnell zu noch beliebteren Fotomodellen. Besonders die mit dem „ab-enen“
Bein.
Vom Café auf der Ecke können wir den ganzen Kathedralvorplatz überblicken und halten ungeduldig Ausschau
in der Hoffnung, die anderen bald zu erspähen. Ich überbrücke die Zeit und versuche, in der Kathedrale
eine deutsche Führung für den nächsten Tag zu organisieren, doch leider ohne Erfolg. Plötzlich sehe
ich ein bekanntes Gesicht: Manfred kommt im Sturmschritt durch das Seitenschiff und teilt uns mit,
dass alle schon längst im Hotel sind und auf uns warten. Auch im Hotel scheitern trotz unzähliger
Telefonate alle Versuche, einen deutsch sprechenden Reiseleiter für den nächsten Tag aufzutreiben.
Da kein gemeinsames Abendessen im Hotel gebucht ist, finden wir uns - leider mit Ausnahme von Regina
und Walter - zur verabredeten Zeit im Restaurant um die Ecke ein, wo ich zur großen Überraschung für
alle Paella vorbestellt habe. Allein ihr Anblick ist ein gefundenes Fressen - erst einmal für die
Fotoapparate. Doch die Pfannen werden und werden einfach nicht leer. Schweren Herzens lassen wir
die Reste zurück. Wir vertreten uns rund um die Kathedrale noch etwas die Beine und lassen den
schönen Tag bei einer frisch zubereiteten Sangria in einer der zahlreichen gemütlichen Bars ausklingen.
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