Donnerstag, 7.10.1999 - Von Estella nach Los Arcos - (20,4 km)

Schon um 7.45 Uhr sitze ich im Auto. Toni und ich sind an der Reihe, nach Los Arcos vorauszufahren und ein Auto dort abzustellen. Es ist noch dunkel, aber Toni fährt zielsicher durch die Stadt voran und findet im „Blindflug“ den Weg aus Estella heraus. Wie so oft kommt mir die Anfahrt ungeheuer weit vor. Los Arcos selbst ist ein kleines Nest. Schnell haben wir es in alle Richtungen durchquert, dann entdecken wir das Hotel Monaco. Zurück in Estella finden wir die anderen schon beim Frühstück.

Estella ist eine alte schmucke Königsstadt mit winkeligen Straßen, Palastfassaden und schönen Plätzen. Die Könige von Navarra haben hier im 12. Jahrhundert residiert, und außer dem Königspalast sind auch prächtige Kirchen vom Übergang der Romanik zur Gotik vorhanden, manchmal mit maurischem Einschlag. Vor unserem heutigen Weg wollen wir uns noch etwas in dieser Stadt umsehen.

Also: Beatrix mit Stadtplan voraus, 11 mehr oder weniger muntere Pilgerlein kulturbegierig hinterher! Zunächst ziehen wir in die alte Konventskirche ein, die entsprechend muffig wirkt. Aber unser Alles meinem Gott zu Ehren klingt herrlich in dem Kirchenraum. Wirklich munter wird unsere Schar auf dem Markt - auch in mancher Pilgerin schlägt schließlich ein Hausfrauenherz! Ich genieße das bunte Treiben, bewundere kunstvoll aufgeschichtete Waren und staune über rote Paprikapyramiden. Andere Pilger steuern zielsicher auf die riesige Pfarrkirche San Juan Bautista zu: Wäre das nicht schön, wenn wir einmal eine geöffnete Kirche fänden? Glücklicherweise kommen wir gerade zum Schluss der Messe und können so tatsächlich den Innenraum ansehen. Vieles gibt es zu bemerken, z.B. ein herrliches gotisches Kruzifix mit einem verkrümmten Korpus - noch nie habe ich so ein Kreuz gesehen -, ein gotischer Seitenaltar, den Renaissance-Hochaltar, das romanische Taufbecken.

Estella-San Miguel Dann - Treppensteigen! Wie gut dass wir die Stöcke schon mit haben. Bereits gestern, bei unserem Einzug in die Stadt, als wir durch die Straßen zum Hotel gegangen sind, habe ich die hohen Mauern und Treppen von San Miguel bewundert, erinnerte es mich doch ein wenig an Rocamadour. „Vor allem scheint es unerlässlich, zuerst und sogleich nach San Miguel hinanzusteigen“ heißt es in einem Buch zum Jakobsweg. Oben gewinnen wir einen Rundblick über das Gewirr der Dächer, historische Gebäude fallen ins Auge. Das Tal, durch das der Fluss Ega fließt, ist rings von Bergen eingeschlossen. Am romanischen Nordportal der Kirche geraten wir ins Staunen. Es sind Reliefs aus dem 12. Jahrhundert: Aposteldarstellungen, Sankt Michael als Drachentöter, zwei Engel zeigen den Frauen das leere Grab; im Tympanon Christus in der Mandorla, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten, von Engeln und den Königen der Apokalypse - ein Universum der Glaubenswelt in besonders warmen, honigfarbenen Tönen. In ihren stilistischen Hinweisen zeigt uns Beatrix sogar Parallelen zu Chartres auf. Wir steigen wieder hinunter in die Stadt, benutzen die nach altem Vorbild restaurierte Steilbogenbrücke zur Überquerung des Flusses und wenden uns einige Schritte nach links der Kirche Santo Sepulcro zu. Von Beatrix und Toni angeleitet, freuen wir uns über das gotische Figurenportal - unter den Statuen der Apostel registrieren wir Jakobus natürlich besonders. Im Tympanon ist das Leiden Christi dargestellt.

Wir haben jetzt auch den Pilgerweg erreicht und folgen ihm stadtauswärts. Dabei kommen wir am Pilgerhospiz vorbei - Brigitte gibt von neuem ihren diesbezüglichen Sehnsüchten Ausdruck -, schließlich auch am Königspalast aus dem 12. Jahrhundert, dem einzigen vollständig erhaltenen Profanbau der Romanik. Regina erklärt uns fachkundig das berühmte Kapitell mit der Darstellung vom Kampf Rolands mit dem Riesen Ferragut. Ein paar Schritte weiter führen Treppenstufen zu der ebenfalls berühmten Kirche San Pedro de la Rua hoch. Schade, dass wir diese Treppen nicht mehr hinaufsteigen dürfen! Unter dem Vorwand der Zeitknappheit werden wir auf dem schnellsten Weg zum Stadttor hinaus getrieben (10.20 Uhr).

Die Tatsache, dass gewisse Pilger in Ayegui sehr darauf dringen, den Weg links der N 111 einzuschlagen, lässt allerdings auch noch andere Motive vermuten. Schließlich muss man das Kloster Nuestra Señora de Irache, das ja unmittelbar am Weg liegt (gegenüber liegt der Klosterkeller), unbedingt noch besuchen. Bei einem kulturell so hochwertigen Ziel ist es nicht verwunderlich, dass sich unser Schritt beschleunigt, je mehr wir uns der Weinquelle,  pardon, dem Kloster - nähern und das, obwohl der Weg ansteigt.

Weinbrunnen Glücklicherweise kommen wir nicht in Gewissenskonflikte darüber, welche Institution zuerst zu besichtigen ist, Weinquelle oder Kloster. Der Weg trifft die Entscheidung! Wohl oder übel muss das Kloster an die zweite Stelle rücken! Als ich mit der Nachhut ankomme sind unsere Experten bereits dabei, den Wein zu prüfen, der da für die Pilger kostenlos aus der Wand fließt. Daneben fließt auch Wasser! Da mir aber Karin glaubhaft versichert, der Geschmack sei furchtbar, nehme ich den Wein.

Endlich geht es weiter. Wir verlassen den lärmenden Betrieb an der Weinkellerei (da fanden sich Pilger ein, denen wir nur dort begegnet sind!) und begeben uns in das Klostergebäude, wo der Andrang deutlich schwächer war. Wir kommen durch einen schönen Kreuzgang aus dem 16. Jahrhundert und bewundern die Kapitelle ausgiebig. Die romanische Kirche stammt aus dem 12. Jahrhundert, älter als die Kirchen, die wir heute Morgen in Estella gesehen haben. Sie soll, mehr als jede andere Kirche in Spanien, dem Geist von Cluny verbunden sein. Aber es gibt auch arabische Ornamente als Rosetten und bei Kapitellen. Der Raum fordert geradezu lateinischen Gesang und so singen wir Magnifikat und Salve Regina in Latein. Solche Eindrücke haben wir hier nicht erwartet und entsprechend hochgestimmt verlassen wir die Kirche.

Kloster Irache Den weiteren Weg begleitet ein feiner Regen, der einen Schirm kaum erforderlich macht. Nachdem wir die N 111 wieder gequert haben, geht es vorbei an Zeugnissen des neuen spanischen Baubooms. Wir sind froh, dass der Weg gleich dahinter in einen Eichenwald mit niedrigem Gehölz führt. Vieles erinnert mich an die Causse, die wir in Frankreich durchwandert haben. Die Besonderheit hier liegt jedoch in der eigenartig kräftigen Rotfärbung des Weges.

Azqueta erreichen wir um 12.50 Uhr. Es liegt auf einer Anhöhe. Am Ortsende schauen junge spanische Pilger dabei zu, wie ein Bauer seine Schweine in den Stall treibt. Gleich dahinter geht es wieder von der Hauptstraße weg nach rechts ins Gelände und wir kommen an einem großen Kuhstall vorbei. Auf der anderen Seite des Weges bemerke ich den schönen Gemüsegarten, der in Terrassen angelegt ist. Hinter dem Hof steigt der wieder auffällig rote Weg an, wir kommen durch Weinberge. Kurz vor dem nächsten Ort liegt die Fuente de los Moros (Maurenquelle) am Weg, ein gotisches Gebäude. Ein paar fremde Pilger haben dort Unterschlupf gesucht - es regnet schon wieder ein wenig und ich blicke deshalb nur kurz hinein. Ein wenig erinnert mich die Anlage an eine jüdische Mikwe.

Maurenbrunnen Schon längst grüßt uns das schief sitzende Kreuz auf der Turmspitze der Kirche von Villamayor de Montjardin (solche Spitzen sind uns schon wiederholt aufgefallen). Die romanische Kirche, die auch einige Kunstschätze beherbergen soll, ist leider ebenfalls geschlossen. Inzwischen haben wir schon einen Blick dafür entwickelt, dass wir eigentlich gar nicht mehr nachsehen müssten! Gert hat nämlich längst festgestellt: wenn die Wegmarken nicht zur Kirche weisen, sind Pilger offensichtlich nicht willkommen.

Für die Mittagspause finden wir in einer riesigen offenen Scheune Schutz vor dem Regen. Alles Mögliche liegt da herum, trotzdem sind wir froh, im Trockenen sitzen zu können. Beatrix hat sich bei einem Sturz eine blutende Wunde am Knie zugezogen und Gert betätigt sich als Sanitäter. Die psychologische Betreuung ist dagegen nur mit einigem Vorbehalt zu loben. Tonis feinfühlige Kommentare stehen vielleicht doch etwas zu sehr unter dem Motto: wer den Schaden hat....

Gegen 14 Uhr geht es weiter. Zurückblickend erkenne ich kurz das Castillo de Deyo, das über dem Ort auf einem Berg liegt. Der Nebel verdeckt es jedoch schnell wieder. Unser Weg führt bergab aus dem Ort heraus. Zunächst gehen wir an Weinbergen entlang, die zu unserer Rechten den Hang hinunter reichen. Im Tal, wo der Fahrweg nach rechts abbiegt, hält ein Schäfer mit seiner Schafherde die Wiesen besetzt. Jetzt säumen Pappelwälder unseren Weg. Dieser, leicht fallend, ermuntert uns zu einem lockeren 4er Tempo. Aber Antonio Francisco, der Hirte unserer Herde stoppt entschlossen die abgehende Post, bzw. die durchbrennende Herde: Rosenkranz - Gelände! Da aber zwischen Villamayor und Los Arcos insgesamt 12 km liegen, bleibt doch noch Gelegenheit, etwas für das Tempo zu tun. Während Manfred sich ausgiebig um den Brasilianer kümmert, den wir eingeholt haben, können andere Pilger sich endlich von dem tendenziell stets fallenden Weg treiben lassen. Da kann auch die Nachhut mit energischem Pfiff nichts mehr ändern. In Los Arcos erwartet uns nämlich una cerveza und es sind nur noch dos kilometros (oder so ähnlich!), wie ein mitleidig von seinem Traktor auf uns herüber blickender Bauer uns verkündet. In Wirklichkeit ist die Strecke noch ein ganzes Ende länger, zumindest kommt es uns so vor. Schon seit Stunden begleitet uns zur Linken eine sanfte, teilweise bewaldete Hügelkette - sie will nicht enden. Schließlich macht der Weg einen Bogen nach links - geht es nun zum Tal hinaus? Noch einmal ein Anstieg zum Portillo de las Cabras (Ziegenpass), dann taucht endlich unser Ziel, Los Arcos, vor uns auf.

Los Arcos Am Ortseingang findet sich eine große Tafel mit freundlichem Willkommensgruß durch ein Hotel - es ist aber nicht das unsere. Die enge Gasse zum Zentrum zieht sich viel länger hin als erwartet. Bald erreichen wir dann doch die Kirche mit dem schönen Renaissanceturm und finden mit Hilfe einiger junger Leute schnell unser Hotel. Kurze Zeit später sind auch die Weggefährten bereits da. Im Monaco werden wir zu unserer Verwunderung in deutscher Sprache empfangen. Der Chef des Hauses hat einige Zeit in Düsseldorf gelebt. Er glaubt uns etwas besonders Gutes tun zu müssen und hat für das Abendessen u.a. Erbsensuppe, Schnitzel und Pommes Frites vorgesehen. Mit (gedämpfter) Begeisterung stimmen wir zu (Ade, ihr Segnungen der spanischen Küche - wenigstens für heute!). Die Zimmer haben einen leichten Anflug von Montcuq, das ja, pilgermäßig gesehen, das Maß aller Dinge ist und bleibt. Vom Schlafzimmer jedoch haben wir einen schönen Blick über die Dächer, hinüber zu Kirchturm und Storchennest.

Obwohl rechtschaffen müde vom langen Weg, sind wir für die Besichtigung einer Kirche auch in diesem Zustand noch zu haben. Die Kirche Santa Maria soll bemerkenswert sein. Um 18 Uhr findet sich eine beachtliche Schar einzelner saarländischer Pilger vor dem Kirchenportal ein. Sie warten jedoch vergeblich auf die dort angekündigte Führung. Also, dann zuerst die Autos aus Estella herbeigeholt! Zurückgekehrt bleibt mir gerade noch Zeit zum Duschen. Wir haben uns für 19.30 Uhr verabredet, um vor Beginn des Gottesdienstes die Kirche zu besichtigen. Mein und auch Karins Wille sind gerade noch stark genug, dass wir uns aufmachen. Ausruhen muss warten! Die Belohnung erfolgt jedoch sofort. Die Kirche zeigt uns prachtvolle Deckengemälde und barocke Altäre und unter anderem eine große Orgel mit spanischen Trompeten (die einzige Orgel, die ich in Spanien während eines Gottesdienstbesuches in Aktion hörte). Und - wir erfahren, wie der Rosenkranz hierzulande gebetet wird. Da müssen wir an Tempo und Artikulation noch einiges zugeben - aber - die Virtuosität der guten alten Mercedes (Kastellanin der Kirche) beim Vorbeten wird Toni vermutlich erst erreichen, wenn er den Pilgerweg ein zweites Mal gemacht hat. Jedenfalls scheint sie aber das Ansinnen unseres Pastors wohlwollend beschieden zu haben. Dem kam nämlich beim Betreten des schönen Kirchenraums die spontane Idee, hier sollte ich die Messe mit zelebrieren. Als der Ortspastor von Los Arcos mit der Prozession in die Kirche zurückkehrte, fand er unseren Toni bereits in vollem Ornat vor.

Uns geht es nicht anders als dem geistlichen Herrn von Los Arcos. Beatrix kommt aus der Sakristei: „Wir sollen singen! Ein Marienlied, die Nummer soundso!“ - Stress! Von der Nummer soundso war gerade mal ein Liedblatt bei den Noten und im Übrigen habe ich ohnehin keine Lust zum Singen! Ich wollte lediglich mal in Ruhe zur Kirche gehen, und eine Stimmgabel habe ich auch nicht dabei. Und was machen wir denn jetzt? „Dann muss er halt nehmen, was wir können!“ Beatrix sagt mir noch, wir sollen am Schuss des Gottesdienstes singen. In Gottes Namen! - denke ich, es wird wohl nicht so schlimm werden, schließlich sitzen wir hinten, weit weg vom Altar und können dann ohne viel Aufheben unser Lied beisteuern.

Aber wir haben die Rechnung ohne den Pastor von Los Arcos gemacht. Schon mit Beginn der Messe ist alles anders. Er begrüßt seinen deutschen Gast Antonio Francisco und seine Pilgerschar so herzlich, dass sofort überall Freude aufkommt und mein Unmut über die dilettantische Vorbereitung unseres Auftritts augenblicklich verfliegt. Und in der Anonymität können wir auch nicht untertauchen! Am Schluss der Messe ruft er alle Pilger nach vorn und kündigt unseren Gesang an. Unter den Pilgern am Altar erkenne ich die Holländer, die Französin, die Brasilianer, alle voller Erwartung. „Maria breit den Mantel aus“! Ganz verwundert stellen wir Sänger fest, dass die anderen Pilger und besonders die einheimischen Spanier ganz ergriffen und begeistert sind über das schlichte einstimmige Kirchenlied. Vielleicht gerade deshalb? Zuletzt erhalten wir sogar noch den Pilgersegen, Bilder mit holländischem („Antonio“!), dann, nach missbilligendem Kopfschütteln des ganz und gar unspanisch-lockeren geistlichen Herrn, mit deutschem Text. Mercedes, seine rechte Hand, verteilt emsig Pilgerstempel und Unterschriften.
Los Arcos - Pilgermesse
Es hat uns wieder einmal alle überrollt! Gänzlich unerwartet und ohne Ankündigung dürfen wir diese intensive Gemeinschaft und Zuneigung über alle Sprachgrenzen hinweg erleben. Ich muss an Conques denken!

Bernhard

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