Sonntag, 10.10.1999 -
Von Najera nach Santo Domingo de la Calzada
Unsere achte Etappe sollte uns also von Najera nach Santo Domingo de la Calzadas führen, in die Stadt des
Hühnerwunders also, über die in allen Büchern über den Jakobsweg so viel und so ausführlich berichtet wird.
Nachdem wir noch einmal in Logroño übernachtet hatten, fuhren wir am Sonntagmorgen nach Najera, um von
unserem gestrigen Etappenziel aus weiterzuwandern. Während die übrigen Mitpilger noch einige Einkäufe erledigten,
ging Beatrix noch einmal mit mir ins Kloster, wo ich am Vortag meine kostbare Kopfbedeckung (unter großen
Opfern vor zwei Jahren in einem Top-Sportgeschäft in Moissac erstanden) verloren hatte. Leider war auch
unsere erneute Suche erfolglos, so dass ich mir in einem nahen Souvenir-Laden eine neue kaufen musste, womit
ich gleich zur allgemeinen Erheiterung beitragen konnte, da mit diesem Kauf der Königliche Fußballclub Madrid
einen neuen Fan gewonnen hatte.
Um halb 11 verließen wir endlich Najera. Es war Sonntag und gleichzeitig der spanische Nationalfeiertag, und
so waren gleich uns viele Leute, vor allem Familien mit Kindern unterwegs. Vom Stadtausgang ging es gleich
steil bergan. Zwischen rotem Sandstein zog sich der Weg auf einen kleinen Pass, von wo sich uns ein herrlicher
Blick über eine weite Landschaft bot.
Brigitte musste sich heute ihren Fuß bandagieren, und sie war daher, wie man so sagt, gar nicht gut bei
Huf, aber mit Hilfe des früher so sehr verschmähten Gehstocks hielt sie doch wacker mit. Trotz des
Nationalfeiertags waren zahlreiche Weinbauern mit ihren ganzen Familien bei der Weinlese. Offensichtlich
fragt der Rioja, wenn er reif ist, nicht viel nach dem Nationalfeiertag, und die vielen Helfer sind an
diesem Tag herzlich willkommen.
Nach einer guten Stunde kam Azofra, auf einem kleinen Hügel in der Mitte des Cañastales gelegen, in Sicht.
Das kleine Städtchen nahm uns sonntäglich aufgeräumt in Empfang, und wir waren dankbar, an dem schön
hergerichteten Brunnen unsere Wasservorräte auffüllen zu können. In der Pfarrkirche Nuestra Señora de
los Angelos hielten wir unsere Meditation, heute mit dem Thema Der Weg. Der Weg, an dem die kleinen und
großen Dinge stehen, wo wir an Kirchen und Ruinen vorbeikommen, wo wir den Menschen begegnen, an dem sich
das Leben ereignet, der etwas mit uns macht, und der uns verändert, ob wir wollen oder nicht.
Gegen halb 1 marschieren wir weiter und stoßen am Ortsausgang auf die Fuente de los Romeros (Wallfahrerquelle),
die auf eine lange, geschichtsträchtige Tradition zurückblickt. Ein wenig weiter treffen wir an einer hohen
Säule, die als Schandpfahl bezeichnet wird auf ein Ehepaar aus Graz, das wie wir auf dem Weg nach Santiago
ist, allerdings meist mit dem Auto. Es werden ein paar Worte gewechselt, woher, wohin, und mit guten Wünschen
verabschieden wir uns, die beiden wollen zu ihrem Wagen zurück.
Es ist heiß geworden und die Landschaft hat sich grundlegend gewandelt. Es gibt keinen Wein mehr, stattdessen
nur noch Felder, die weitgehend abgeerntet sind. Von ‘Hinten’ werden die Rufe nach einer Mittagspause immer
lauter, aber die ‘Spitze’ rennt unverdrossen weiter, allerdings nicht aus Übermut, nein, wir wollen einen
schönen, möglichst schattigen Rastplatz finden. Es ist wie bei einer Fata Morgana: was von weitem aussieht
wie eine Baumgruppe, entpuppt sich beim Näherkommen immer als kümmerliches Gestrüpp. Endlich finden wir
unsere ’Oase’: der Ansatz einer kleinen Obstplantage, schon wieder aufgegeben und verwildert, kaum 20 mal
20 Meter groß, mit einem kleinem Becken mit
abgestandenem Wasser, aber immerhin, fast jeder findet ein klein
wenig Schatten, ein wenig Gras, um sich auszustrecken, und einigen ganz ausgehungerten Pilgern wachsen die
Früchte dabei fast in den Mund. Gert, der keinen Platz mehr unter den Sträuchern ergattert hat, bastelt sich
aus seinem Wanderstock und seinem Regenschirm (den er offensichtlich nur deshalb heute mitgenommen hat) seinen
eigenen Schattenplatz. „Not macht erfinderisch“, lautet sein Kommentar auf das allgemeine Gelächter. Die
Pause tut gut, aber um halb 3 müssen wir wieder weiter, wir haben erst wenig mehr als die Hälfte unseres
heutigen Weges zurückgelegt. Gleich beginnt der Anstieg auf die Hochebene, auf der sich die Orte Cirueña
und Ciriñuela befinden. Wir kommen gehörig ins Schwitzen, aber auf der Anhöhe finden wir einen wunderschönen
schattigen Eichenwald, der uns zum Verschnaufen einlädt. Hier wäre der ideale Rastplatz gewesen, aber den
hätten wir ohne die vorherige Pause kaum geschafft. Es fällt uns schwer, bald wieder aufzubrechen, der
tägliche Rosenkranz hilft uns, wieder in den Tritt zu kommen.
Dann stellt sich heraus: Brigitte hat unter den Eichen ihre Brille liegen lassen. Gert, unser Schnellläufer,
gibt seinen Rucksack an Edgar und während er zurückeilt, liegt vor uns in einem riesigen Talkessel unser
Tagesziel, Santo Domingo de la Calzada. Es dauert noch eine gute Stunde, bis wir den Stadtrand erreichen,
aber zum Glück geht es ständig bergab (zumindest tendenziell), was mir heute ausnahmsweise alle glauben.
In der Zwischenzeit hat uns auch Gert wieder eingeholt und die Brille unversehrt mitgebracht. Bravo!
Santo Domingo empfängt uns still, die Siesta ist noch nicht ganz zu Ende und wir können unsere Luxusherberge
im Hostal RIO beziehen. Man muss es positiv betrachten: da hat in grauer Vorzeit eine Königin hier Station
gemacht, und in erstarrter Ehrfurcht darf seither nichts mehr verändert, repariert, oder gar gereinigt
werden; wer hat schon das Vergnügen, in einem derartigen Denkmal absteigen zu können. Zu allem Unglück
gelingt es einem aus unserer glorreichen Truppe sogar, eine der beiden einzigen Duschen im Haus außer
Betrieb zu setzen; zum Glück ist es nicht der, der sonst für solche ‘Fälle’ zuständig ist. Wie dem auch
sei, jede Jahresetappe hat ihr Montcuq, wenngleich wir dort ohne Zweifel mehr Spaß hatten.
Erinnerungen an Montcuq
Endlich waren alle landfein und die einzelnen Grüppchen machten sich auf, das Städtchen zu erkunden, in
dem es jetzt am frühen Abend sehr lebhaft zuging. Schließlich trafen wir uns alle an der Kathedrale, um
gemeinsam unseren Sonntagsgottesdienst zu feiern. Leider ist der Pfarrer nach der Messe etwas kurz
angebunden, und während wir uns in der schönen Kathedrale noch ein wenig umsehen wollen, erlischt plötzlich
die Beleuchtung; aber morgen ist ja auch noch ein Tag.
Vor dem anschließenden Abendessen geht es im Restaurant noch ein wenig chaotisch zu, aber schließlich
sitzen wir alle zusammen am Tisch und beschließen einen langen und erlebnisreichen Tag.
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