Dienstag, 10.10.2000 -
Von Astorga nach Foncebadón
Schon sehr früh brechen Walter, Gert und ich auf, um die Autos nach Rabanal zu bringen, denn das ist unser
heutiges Ziel. Es ist noch rabenschwarze Nacht, und die Orientierung auf der schmalen Straße in den Bergen
ist gar nicht einfach. Plötzlich taucht vor mit eine Abzweigung auf, erst im letzten Moment kann ich anhalten:
Rabanal El Viejo. Das muss der richtige Weg sein. Schnell finden wir am Rand des Dorfes eine gute Gelegenheit
zum Abstellen der Autos, aber als wir aussteigen, überfällt uns Angst und Schrecken: es herrscht ein Sturm,
dass wir meinen, fortzufliegen. Ob die Äste der Bäume abbrechen und unsere Autos unter sich begraben? Wir
wagen es und fahren mit Wolfgangs Wagen zurück nach Astorga. Während der Fahrt wird es im Osten allmählich
Tag, das Wetter sieht nicht schlecht aus.
Punkt 9 Uhr verlassen wir auf leeren Straßen Astorga. Kein Mensch ist zu sehen. Schon im Hotel gab man uns
zu verstehen, dass es unanständig ist, so früh zu frühstücken. Gewiss, auf den Sonnenstand bezogen ist es
gegenüber Mitteleuropa erst 8 Uhr, und das Leben in Spanien spielt sich erst am Abend ab, kein Wunder also,
dass der nächste Tag für unsere Begriffe erst spät beginnt. Wir passieren eine moderne Kirche, deren
Patronat wir nicht erkennen können. Sie könnte dem Heiligen Jakobus geweiht sein, denn an einer Wand sind
verschiedene Abbildungen und Inschriften zum Jakobsweg angebracht. Ein verschlossenes Eisengitter versperrt
uns den Zugang, so dass wir nichts Näheres in Erfahrung bringen können.
Dann steigen wir ins Tal des Rio Jerga hinab; über dem Talkessel tauchen vor uns die Berge auf, auf die wir
heute steigen müssen. Sie sehen harmlos aus, viel weniger bedrohlich als die Pyrenäen, und dennoch werden
wir hier den höchsten Punkt unseres gesamten Pilgerweges erreichen. Die Gipfel sind jetzt in Wolken gehüllt,
die der Wind über die Höhen peitscht, aber das werden wir am heutigen Tag noch viel intensiver und aus der
Nähe erleben. "Der Wind kommt aus Galizien", hatte uns gestern eine alte Frau in San Justo de la Vega
zugerufen, "das ist nicht gut für die Pilger!" Wir werden erleben, was sie damit gemeint hatte.
Auf der Straße nach Santa Colomba verlassen wir endgültig die Stadt, überqueren die Autobahn nach La Coruna
und gelangen um ½ 10 zu der kleinen Kapelle der Ermita de Ecce Homo. Spätestens jetzt ziehen auch die "Eisernen"
aus unserer Truppe, die sich vom Sonnenschein haben verleiten lassen, ihre Anoraks an. Eine halbe Stunde später
überqueren wir den Rio Jerga, gehen durch das kleine Dorf Murias de Rechivaldo, dann geht es wieder über freies
Feld. Wir müssen unsere Stöcke fester halten, in der Zwischenzeit sind wir fast alle zu Kapuzenmännern geworden.
Langsam aber stetig geht es bergauf, Toni stampft voran und stemmt sich dem Wind entgegen, als wolle er für alle
eine Bresche in den Wind schlagen. Eineinhalb Stunden nach unserem Aufbruch in Astorga stoßen wir wieder auf die
Straße nach Santa Colomba, die wir aber nur kreuzen. Der Weg ist, wie in den letzten Tagen, neu ausgebaut und
geschottert, wie für die Ewigkeit, und verläuft unmittelbar neben der kleinen Straße nach Santa Catalina, El
Ganso und Rabanal. Zu unserer Rechten lassen wir Castrillo de los Polvazares liegen, ein kleines Städtchen, das
sich wegen seines gut erhaltenen beziehungsweise vorbildlich restaurierten mittelalterlichen Bauzustandes
zu einem bedeutenden Touristenzentrum entwickelt hat.
Kurz nach 11 kommen wir in Santa Catalina an. Das kleine Kirchlein ist leider verschlossen; den Schlüssel
hätten wir aus Astorga mitbringen müssen, erklärt man uns. Wir drängen uns in dem kleinen Windfang zusammen.
Hier sind wir wirklich vor dem Wind geschützt und die Sonne wärmt uns. Unterwegs ist heute das Thema unserer
Meditation. Seit zwölf Tagen sind wir jetzt unterwegs, oder seit 6 Jahren; eigentlich sind wir unser ganzes
Leben unterwegs. Manchmal etwas beschwerlicher, mit Gegenwind, wie heute. Wir erleben immer neue Wegstrecken,
wir erleben auch uns, wir erleben auch unsere Macken und Schwächen. Wir dürfen zwar zurückschauen, darauf, wo
wir hergekommen sind, aber wir müssen weiter, das richtige Ziel vor Augen. Heute. Und in unserem Leben.
Wir wandern durch das leere Dorf, die Häuser sind aus festem Stein gemauert, nicht mehr aus Lehm, wie in der
Meseta. Wir kommen an einer kleinen Bar vorbei, darinnen herrscht Leben. Ein heißer Kaffee täte gut. Ob ein
Veterano erlaubt ist? Beides läuft bis in die Zehenspitzen, und in heiterer Stimmung geht es weiter, Richtung
El Ganso, das wir in einer knappen dreiviertel Stunde erreichen. Viele Häuser sind verfallen, das Dorf macht
einen ziemlich verfallenen Eindruck. Nur die 'Cowboy Bar' lockt uns zum Verweilen, aber wir lassen sie im
wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Nach einer weiteren halben Stunde, es ist jetzt viertel nach 1,
durchqueren wir ein kleines Eichenwäldchen. Windstille! Das wäre der richtige Ort für die Mittagspause.
Herumliegende Autoreifen dienen uns als Sitzgelegenheit. Es gibt feine Oliven, Schokolade, und was es an
Köstlichkeiten noch so gibt, wir möchten am liebsten gar nicht mehr weiter. Aber wir müssen ... siehe oben.
Nach kurzem Weg gelangen wir zu dem Abzweig nach Rabanal El Viejo, und jetzt, am Tag, erkennen wir, dass wir
in der Nacht falsch gefahren sind: wir müssen nämlich nach Rabanal del Camino. Während die Gruppe auf dem
richtigen Weg weitergeht, laufen Gert und ich in einem regelrechten Eilmarsch die drei Kilometer nach Rabanal
El Viejo um die Autos zu holen und fahren damit nach Rabanal del Camino. Hier treffen wir wieder auf unsere
Mitpilger, die uns bei einem Kaffee erwarten.
Rabanal, noch vor wenigen Jahren vom Verfall bedroht, ist heute
wieder, sicherlich dank der wieder erwachten Tradition des Jakobswegs, auf dem Weg zu einem stattlichen Dorf.
Eigentlich sind wir damit an unserem Tagesziel angelangt, aber es ist noch nicht 4 Uhr. Es wäre gut, heute
noch ein Stück zu gehen um die morgige Etappe entsprechend abzukürzen. Bis Foncebadón sind es etwa 5 ½
Kilometer, das müsste in einer guten Stunde zu schaffen sein, also beschließen wir, dieses Stück noch
anzuhängen. Wir folgen zuerst einem schmalen Pfad durch eine heideartige Landschaft, dann geht es ein
gutes Stück durch völlig mit Ginster zugewachsenes Gelände steil bergan, bis wir die Straße nach Foncebadón
wieder erreichen. Weit im Hintergrund erkennen wir noch immer Astorga, dominiert von der mächtigen Kathedrale,
dort scheint noch immer die Sonne.
von Rabanal nach Foncebadon |
Auf der Straße geht es sich besser, aber dafür hat uns der Wind jetzt voll erwischt. Wir müssen uns regelrecht
vorkämpfen. Der vor uns liegende Pass ist ständig von Wolken umhüllt, die der Wind in Fetzen zerreißt und an
uns vorbei ins Tal treibt. Jeden Moment müsste es zu regnen beginnen, aber schließlich erreichen wir trocken
Foncebadón. Es ist gerade 5 Uhr, als die letzten müden Krieger eintreffen. Noch nie auf unserem ganzen Weg
haben wir eine solche Strecke in so kurzer Zeit zurückgelegt und dabei noch einen Höhenunterschied von fast
300 Metern überwunden.
Für den Rückweg haben wir nur 2 Autos, so dass sich Helga und Beatrix wieder ganz klein zusammenfalten müssen,
um in meinem Kofferraum Platz zu finden. In abenteuerlicher Fahrt geht es über Santa Colomba zurück nach
Astorga. Am Stadteingang steigt Bernhard aus um zu Fuß zum Hotel zurückzukehren; wir wollen der Polizei
keine Gelegenheit geben, uns Schwierigkeiten zu bereiten.
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