Gedanken auf dem Jakobsweg
Unterwegs
- im Windfang der Kirche in Santa Catalina de Somoza
Seit 12 Tagen sind wir unterwegs, seit 12 Tagen leben wir aus dem Koffer, aus der Tasche für den Alltag,
haben wir an jedem Abend eine andere Schlafstätte, beziehen jeden Abend, jeden Tag ein anderes Zimmer, ein
anderes Bett, werden von anderen Leuten am Tisch bedient, gehen wir jeden Tag einen anderen Weg. Seit zwölf
Tagen sind wir unterwegs, gehen jeden Tag andere Wegstrecken, erleben andere Landschaften, erleben uns auch
seit zwölf Tagen, in diesem Jahr, viel intensiver als sonst; auch mit unsern Macken, vielleicht auch mit
unseren Empfindlichkeiten, mit unsern blinden Flecken. Seit zwölf Tagen sind wir unterwegs, eigentlich schon
seit sechs Jahren. Mehr unterwegs als sonst, obwohl wir sonst auch nicht den ganzen Tag in der Stube hocken,
aber wir haben unser festes Haus, wohin wir immer wieder zurückkehren; wir haben unsern Standort, von wo wir
wieder ausgehen; jetzt ist alles anders; jetzt gehen wir durch die Landschaft, ich habe vor ein paar Tagen
einmal scherzeshalber gesagt, wir kommen uns manchmal wie Landsteicher vor. Aber, damit kann uns auch einiges
bewusster werden, dass wir eigentlich ständig unterwegs sind, unser ganzes Leben; dass unser ganzes Leben
immer wieder Aufbruch ist, von Neuem; dass unser ganzes Leben eine Unruhe in sich hat, ein Suchen, ein
Vorwärtsgehen, ein Rückwärtsschauen, so wie wir es auch heute Morgen wieder erlebt haben, unterwegs;
weiter hinauf, manchmal mühsam, mit einer Menge Gegenwind, und dann zurückschauen, was wir schon hinter
uns gelassen haben. So ist es, wenn man unterwegs ist. Nicht immer das selbe, sondern immer etwas anderes.
Und so ist auch das Leben. Ein ständiges Unterwegssein. Nur muss man wissen, wohin man will. Nur muss man
den Mut haben, weiterzugehen. Rückschauen ist notwendig, aber vorwärts muss man gehen. Unterwegs müssen
wir bleiben; nur dann erleben wir andere Dörfer, andere Menschen; erleben wir uns auch selbst; wenn wir
unterwegs sind. Und dann kann sich auch manches relativieren, wenn wir merken, wir kommen weiter. Dann
brauchen wir nicht auf unseren Empfindlichkeiten zu hacken, unsere Rechthabereien auszukosten, dann können
wir ein Stückchen großzügiger sein, wenn wir merken, wir kommen weiter. Denn das ist das Entscheidende;
nicht, dass wir hier und da mit dem Finger drauf zeigen, sondern dass wir weiterkommen. Dass wir das Leben
erleben. Unterwegs.
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