Freitag, 6.10.2000 -
Von El Burgo Raneros nach Mansilla de las Mulas (18,6 km)
Wir haben ein zweites Mal in Sahagún im Hotel Condorniz übernachtet und unser heutiger Ausgangspunkt liegt
bereits weit vor uns und wir müssen mit den Autos hinfahren.
Um 7.30 Uhr versammeln wir uns im Frühstücksraum. Nachdem Beatrix interveniert hat gibt es heute sogar Brot
zum lauwarmen Kaffee. Wie gestern werden wir auch heute wieder eifrig umsorgt von dem kleinen gelben Papagei
pardon, der Chefin. Ihre wortlose geschäftig-verschlossene Gastfreundschaft dürfte uns noch lange in Erinnerung
bleiben. Dafür tat das Scheiden nicht weh!
Kurz nach ½ 9 Uhr sind wir bereits am Ziel der gestrigen und Ausgangspunkt der heutigen Etappe, dem Platz hinter
der Autobahnbrücke, etwa 700 m vor El Burgo. Der Autoverschub muss noch abgewickelt werden und da wir die
Autofahrer hinter dem Ort wieder treffen wollen, haben wir es nicht so eilig mit dem Losmarschieren. Toni
sorgt dafür, dass wir die Zähne ordentlich putzen und entsorgt die jetzt leider leere Flasche in mustergültiger
Weise. Entsprechend gut gestimmt ziehen wir los: "über unendliche Wege". Wir nähern uns schnell dem Ort und
es geht mir ähnlich wie seinerzeit Hans Aebli. Ein lebendiger Ort! Da gibt es alte Häuser und Lehmbauten, deren
Stabilität und Festigkeit ein gewisser Pilger mit seinem Stock geräuschvoll prüft, daneben backsteinverkleidete
Mauern. Wir bewundern den Erfindungsreichtum, der hier beim Renovieren an den Tag gelegt wird. Handwerker
sind auf der linken Straßenseite schon in Aktion. Ob es wohl die Männer sind, von denen schon Aebli berichtete?
Das Storchennest auf der Kirchturmspitze ist jedenfalls noch da. Beatrix stellt sich stolz in Position vor dem
Haus "Beatrice", auf dessen Tür ein Adlerwappen prangt. Nach kurzer Zeit erreichen wir das Ortsende. Während
einige der Gefährten schon ein Stück weitergehen, Beatrix und Toni die dörfliche Baukunst bewundern, bleibe
ich erst einmal stehen, um die Eindrücke zu bewältigen, die auf mich einströmen.
Es ist ein herrlicher Morgen, noch ein wenig kühl! Aber die Sonne wärmt schon den Rücken und taucht die sich
vor mir ausbreitende Ebene in gelbe und braune Farben. Das Land, flach wie ein Tisch, scheint vor uns ins Grau
abzukippen. Am rechten Horizont, bereits greifbar nahe, erheben sich die klaren Umrisse des Kantabrischen
Gebirges. Auf den Äckern wird schon gearbeitet und in der Nähe zieht ein Traktor seine Bahnen. Der Blick
folgt den Platanen, die unseren Weg kenntlich machen und schnurgerade in die Ferne führen. Ansonsten gibt
es nur vereinzelt Bäume oder Baumgruppen. Links begrenzt die Autobahn die überschaubare Fläche, dahinter
sieht man hügeliges Land. Als ich zurückblicke, erkenne ich im Gegenlicht der Morgensonne am Ortsrand unsere
Autofahrer. Es ist 9.10 Uhr. In der Nähe des Friedhofs holen sie uns ein. Nach einer halben Stunde macht
unser Weg eine leichte Rechtskurve; jede Richtungsänderung sieht man immer im Voraus am Verlauf der
Platanenreihe, was sofort unser Blickfeld verändert. Nun scheinen die Berge in der Ferne den Weg zu kreuzen.
Ein Bach, der im rechten Winkel unseren Schotterweg quert, bringt in seiner Umgebung einiges Grün hervor.
Als wir aus der kleinen Senke des Bachlaufs wieder heraus sind, entdecke ich links, in weiter Ferne, Kirchturm
und Häuser eines Dorfes, wie hingetupft auf die Fläche. Kann das schon Villamarco sein? Vor uns liegt wieder
ein Querriegel von Bäumen und Sträuchern. Unser Weg und die parallel verlaufende unbefestigte, staubige
Autostraße (alle halbe Stunde kommt mal eine Auto vorbei) zielt auf eine offene Stelle in diesem Riegel,
die wie ein Tor in der Mitte liegt. Die Baumreihe entpuppt sich beim Näher kommen als lichter Platanenwald,
der sich an ein Bachbett anlehnt und uns zu einer Rast einlädt. Es ist 10.05 Uhr.
Als Thema der heutigen Meditation hat Toni Schritte gewählt. Worte, die wir verstehen, die wir auf unserer
Pilgerschaft durch die weite Meseta täglich erleben und begreifen!
Um 10.30 Uhr sind wir wieder auf dem Weg. Während unseres Singens sind vier Pilgerinnen an uns vorbeigezogen.
So recht wussten sie wohl nicht, was sie von uns halten sollten. Am nächsten Rastplatz geht es umgekehrt: die
Vier machen Pause und wir ziehen fröhlich winkend an ihnen vorbei.
Vor uns eine Schafherde! Die Tiere haben sich ausgebreitet über Pilgerweg und Fahrstraße. Hinter ihnen taucht
ein Auto auf, das dritte oder vierte seit wir von El Burgo los sind. Jetzt wird es interessant! Ein Pfiff,
der Schäfer zeigt die Richtung an und drei Hunde flitzen los. Die Herde bewegt sich in Sekunden von der Straße
weg als wäre sie ein zusammenhängender Organismus. Wenig später nehmen die Schafe wieder ihre früheren Plätze
ein. Der Schäfer, ein alter Mann, geht voraus und lässt seine vierbeinigen Gehilfen, ohne diese weiter zu
beachten, ihre Arbeit tun.
11 Uhr: Links neben unserem Weg sind Autoreifen in die Wiese eingelassen und begrenzen die Landebahn eines
Feldflugplatzes. Airport Nördliche Meseta meint Manfred trocken. Villamarcos liegt jetzt querab, wir haben
also bereits etwa 9 km zurückgelegt. Die Hochfläche vor uns hat sich verändert. Die Eisenbahnmasten, lange
waren sie auf Distanz, nähern sich jetzt in spitzem Winkel unserem Weg. Um 11.40 Uhr erreichen wir den
Bahnübergang. Jenseits der Gleise wird nun die Landschaft wieder farbiger. Auf den Feldern wird gearbeitet.
Wir erreichen eine kleine Senke.
Es ist 12 Uhr und da gibt es einen Rastplatz im Valle de Santa Maria, der
wie geschaffen für uns ist: Schatten, Sonne, Tische und Bänke (alles solide in Beton)! Die Stimmung unter
den Pilgern ist so aufgeräumt, dass Walter Manfred den Vorschlag macht, er könne doch mal ein Witzbuch für
Pilger herausgeben. Dieser hat jedoch zunächst einmal genügend damit zu tun, Karins Wanderstock
wiederherzustellen. Der herrliche Platz hat auch die vier (französischen) Damen überzeugt und sie machen
sich's ein paar Meter entfernt am Nachbartisch bequem. Nach etwa einer Stunde erwachen langsam unsere
Lebensgeister wieder und wir brechen auf. Es geht über einen leichten Buckel, dann liegt Religios zu unseren
Füßen. Der Ort selbst ist eine ziemliche Enttäuschung. Kurz vor dem Ort ist eine Bar ausgeschildert, aber
die Türen sind verrammelt. Im Ort selbst ist eine geöffnet, die Pilgerschar, außer Beatrix und Toni, ist
jedoch den Blicken bereits entschwunden. "Kein Interesse an einem Pilgerstempel" denke ich und wir drei
nehmen mit den Kameras die eigenartige Kirchenruine aufs Korn, die oberhalb malerisch auf einem Hügel steht.
Am Ortsausgang treffen wir dann die Spitzengruppe, die auf uns gewartet hat. Wo aber ist Regina? Die
Französinnen, die wir befragen, wissen auch nichts Genaues zu sagen. Keine Panik, sie ist schon wieder
da! Zum Rosenkranz legen wir ein flottes 6er Tempo vor. Die Franzosen können weder mit dem Gehen noch
mit dem Beten mithalten. Die Landschaft wird lebendiger, die Besiedlung dichter. Hügel begrenzen jetzt
den Blick. Um 14.30 Uhr erreichen die Ortsumgehung von Mansilla de las Mulas, die auf einer Brücke überquert
wird. Wenig später kommt der Stadtbogen Santa Maria. Die Autos finden wir an der Kirche Nuestra Senora la
Virgen de Gracia.
Unser Hostal liegt am Stadtrand und bei seinem Anblick trauert Beatrix dem Drei Sterne Hotel gegenüber nach.
Vom äußeren Eindruck her scheint unsere Unterkunft sich so etwa in die Kategorie Montcuq einordnen zu lassen.
Die Zimmer jedoch sind groß, aber es ist kalt! Überall liegen Mücken herum, die offensichtlich einem Gasangriff
zum Opfer gefallen sind.
Später, ich bin gerade so schön am Eindösen, schreit ein stimmgewaltiger Pilger auf dem Flur herum. Na ja!
Im Buch steht einiges Interessantes, Altstadt usw., also bin ich dabei. Karin, die gerade ihre Füße
verpflastert hat, beschließt, den Blasen etwas Ruhe zu gönnen.
Unsere Kulturfreaks haben sich als erstes das Zisterzienserkloster Santa Maria de Sandoval in der Nähe von
Mansilla vorgenommen, das wir mit den Autos anfahren. Zunächst hat es den Anschein, es handele sich um eine
bessere Ruine und wir stehen etwas ratlos in der Gegend herum. Wir finden zwar ein eindrucksvolles Portal,
aber es ist diagonal mit Brettern verrammelt, Arbeitsgeräusche sind von innen zu hören. Eine alte Senora,
gestützt auf ihren Stock, spricht uns an. Wo ist sie nur hergekommen? Ihre Gestik ist eindeutig: Wollt ihr
rein? Als wir bejahen schleppt sie sich zum Portal, klopft energisch mit ihrem Stock an die Bretter und das
Sesam öffnet sich. Die Kirche ist groß, total verwahrlost, Arbeitslärm und starker Farbgeruch sind überaus
lästig. Immer noch unschlüssig laufen wir herum, entdecken ein paar Einzelheiten, aber so richtig in Aktion
kommen wir nicht. Unsere Führerin öffnet uns die Tür, die hinter den Hochaltar führt und zeigt uns die
Reliquienkästchen und -schreine. Beim Blick vom Hochaltar ins Kirchenschiff entdecke ich nun, dass doch
schon Renovierungsarbeiten durchgeführt worden sind. Hoch oben ist vieles gereinigt und wunderbare Arbeiten
sind freigelegt. Alles ändert sich als die Senora merkt, dass Beatrix spanisch versteht. Plötzlich haben
wir eine Führerin, die zielstrebig und energisch vorangeht und uns auf die Kunstschätze des Klosters
regelrecht draufstößt. Sie entdeckt uns die wunderbare Schönheit der Eingangspforte und erschließt uns
die einstige Größe des Klosters. Es wird eine anschauliche Führung durch eine vergangene Zeit. Ihr Gehstock
scheint sich zu verselbständigen, wenn sie uns, ohne selbst hinzusehen, die in den Ruinen schlummernden
Geheimnisse zeigt. Im Kreuzgang erfahren wir schließlich Näheres über die rätselhafte Dame: sie heißt Munia,
ist 89 und nicht etwa ehemalige Lehrerin. Sie habe nie eine Schule besucht, aber aus Liebe zur Kunst käme
sie jeden Tag hierher, um interessierten Leuten das Kloster zu zeigen; wieder so ein Jakobsweg-Erlebnis!
Noch ganz im Banne der Begegnung mit der alten Dame machen wir uns wieder auf den Weg. Das Monasterio San
Miguel de Escalada soll in der Nähe liegen. Zum Schluss sind es 16 km und die brauchen ihre Zeit (und
Benzin: Toni fährt wieder mal stundenlang mit dem letzten Tropfen). Es geht in die Hügel, die nördlich
der Stadt liegen. Das Land ist wild, aber es werden offensichtlich große Anstrengungen unternommen, es
fruchtbar zu machen. Wir erreichen die Kirche kurz nach 18.30 Uhr. Der Säulengang an der Seite liegt
bereits im abendlichen Sonnenlicht. Die Aufseherin, in einem uniformartigen Kostüm, will gerade schließen.
Großzügig erlaubt sie uns, in Ruhe alles anzusehen. Die nicht so sehr große dreischiffige Kirche ist bestens
in Schuss. Sie wurde 913 von mozarabischen Mönchen errichtet, die aus Cordoba vertrieben worden sind.
"Alabasterfenster", stellt Toni fest. Die Säulen sind unterschiedlich. Westgotische und römische sind
darunter. Viele Details gibt es zu sehen. Besonders beeindrucken mich Tier- und Pflanzenmedaillons und
feine geometrische Muster. Der Kirchenraum liegt jetzt im mystischen Halbdunkel und erhält durch die
Abendsonne eine ganz besondere Atmosphäre. Wir nehmen uns Zeit, auch um die Kirche herumzugehen und nützen
das gute Licht eifrig zum Fotografieren. Schließlich verabschieden wir uns von der hilfsbereiten jungen
Dame, die ihr Museum hinter uns absperrt. Auf dem Heimweg erreichen wir Mansilla von der anderen Seite.
Über die alte Brücke überqueren wir den Fluss Esla und entdecken zu beiden Seiten die gut erhaltene,
eindrucksvolle Stadtmauer. Noch Verpflegung für den morgigen Tag und dann ins Hostal! Das Abendessen
lässt nicht lange auf sich warten. War das wieder ein Tag. Einsamkeit, Stille und Natur, Begegnungen,
Geschichte und Kultur!
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