Dienstag, 3.10.2000 - Von Frómista nach Carrión de los Condes

Unser Blick vom Fenster unseres Hotels fällt direkt auf die wunderschöne Kirche San Martin, die wir am Abend zuvor ausgiebig besichtigt haben, als wir uns um 8 Uhr erheben. Um ½ 9 gibt es Frühstück mit "Riesen"-Hörnchen, und um 9 Uhr sind wir endlich abmarschbereit. Leichter Morgendunst und ein strahlend blauer Himmel lassen einen heißen Tag erwarten. Unsere heutige Etappe nach Carrión de los Condes wird eine der leichtesten dieses Jahres sein; nur 19 km und ohne Steigungen.
Fromista - San Martin
Noch einmal müssen wir einen Fototermin an der Kirche wahrnehmen; alle Fotos von gestern werden heute in der Morgensonne noch einmal aufgenommen, dann marschieren wir endlich los und haben bald das kleine Städtchen hinter uns gelassen.

Auf dem freien Feld ist es noch neblig und frisch, aber das wird rasch vergehen. Ein schönes steinernes Wegkreuz markiert den Anfang des Weges am Stadtrand, der unmittelbar neben der Hauptstraße angelegt ist. Eigentlich schätzen wir diese "Pilger-Autobahnen" nicht, aber der Weg ist wenigstens nicht asphaltiert und wir kommen rasch voran.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde erreichen wir die Ermita de San Migel, aber - leider - ist die Kapelle verschlossen. Der Nebel lässt die in einem Wäldchen versteckte Kapelle in einem geheimnisvollen Licht erscheinen, und die Motiv-Sammler kommen einmal mehr auf ihre Kosten. Der schön hergerichtete Rastplatz lädt uns zwar zur Frühstückspause ein, aber für eine ausgedehnte Rast haben wir erst ein zu kleines Wegstück zurückgegelegt. Nach wenigen Minuten gelangen wir nach Población de Campos, einem kleinen verschlafenen Ort. Die Straßen sind noch wie ausgestorben, obwohl es fast 10 Uhr ist. In der kleinen romanischen Einsiedelei Ermita del Socorro halten wir unsere Meditation.

Poblacion del Campo Spuren sind unser heutiges Thema. Spuren von Traktoren bei der Arbeit auf Feldwegen; Spuren von Menschen, die einmal vor uns hergegangen sind. Fußspuren, bei nassem Wetter in den feuchten Erdboden gedrückt, mit Profil; Fußspuren im Staub; Brandspuren auf den Feldern. Spuren die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zunkunft weisen. Als wir das kleine Kirchlein verlassen, scheint das Dorf erwacht zu sein. Ein Gemüsehändler steht mit seinem Verkaufswagen auf der einzigen Straßenkreuzung im Ort und bietet seine Waren an. Nicht nur die Frauen aus dem Dorf, auch wir erstehen einige Früchte zur Erfrischung am heutigen Tag.

Immer geradeaus geht der Weg von Poblacion weiter. Lange begleitet uns eine Wasserleitung, wir durchqueren ein Pappelwäldchen, und gegen ½ 12 gelangen wir nach Villovieco. Die Kirche ist verschlossen, und einen Bäcker gibt es hier im Dorf schon seit Jahren nicht mehr. Der fahrende Bäckerladen kommt erst am späten Nachmittig, wie wir in Erfahrung bringen. Droht uns heute der Hungertod? Wir sehen schon unsere Gebeine in der endlosen Meseta in der gnadenlosen Sonne verbleichen. Uns bleibt nur eine Chance: wir müssen weiter. Kurz nach dem Ort überqueren wir auf einer schönen alten Brücke den Rio Ucieza, dem wir jetzt gut 1 ½ Stunden folgen werden. Unterwegs treffen wir auf einen Schäfer, der uns von den Beschwerlichkeiten seines Berufes berichtet. Es wäre ein wunderschöner Weg, der sich meist unter Bäumen neben dem Fluss hinschlängelt, wären nicht die Millionen von Mücken, die sich dort ebenfalls sehr wohlfühlen und uns als willkommene Blutmahlzeit betrachten. Einige von uns haben sich Wedel von den Bäumen gebrochen, um sich der Plage zu erwehren. Endlich kommt die Einsiedelei der Virgen del Rio, der Jungfrau vom Fluss, in Sicht. Ermita Virgen del Rio Aus der Ferne gleicht sie eher einer wuchtigen mittelalterlichen Burganlage als einer Einsiedelei. Die Kirche ist - wie sollte es anders sein - verschlossen, aber die Vorhalle spendet ein wenig Schatten und lädt uns mit ihren in die Wand eingelassen Bänken zur Mittagspause ein. Sie ist wie immer viel zu kurz, aber wir wollen weiterkommen.

Es ist gerade 2 Uhr, als wir in Villalcázar de Sirga mit der berühmten Kirche Santa Maria la Blanca ankommen. Zu spät. Siesta von 14.00 bis 17.00 Uhr, belehrt uns unfreundlich, ja fast feindselig die Fremdenführerin. Das hatten wir doch schon einmal. Schließlich gewährt sie uns fünf Minuten, aber was ist das für diese Kirche. Statt der Kirchenbesichtigung gibt es einen Kaffee in der Bar Las Cantigas. Diese Tradition, am Vortag in Boadilla del Camino begonnen, hatte sich rasch etabliert und sollte in den nächsten Tagen ihre Festigung finden.

Am Ortsausgang von Villalcázar treffen wir wieder auf unsere "Pilger-Autobahn", die dem historischen Weg neben der heutigen Hauptstraße folgt. Das leichte Negativ-Gefälle (wer hat nur diesen Ausdruck erfunden) hält uns nicht davon ab, unseren Rosenkranz zu beten. Nach einer Stunde haben wir die leichte Anhöhe überwunden, und vor uns liegt, zwar noch in einiger Entfernung, unser Ziel, Carrión de los Condes. Erstmals erkennen wir weit in der Ferne die Berge der Sierra Cantabrica. Jetzt geht es, wenn auch nur ganz leicht, und zwar tatsächlich und nicht tendenziell, abwärts. Um 4 Uhr erreichen wir den Stadtrand von Carrión. Carrion de los Condes Eine große Tafel an der Straße kündigt den Ort an und ein riesiges Keramikbild des heiligen Jakobus an einer Hausfassade weist die Stadt als wichtige Station am Jakobsweg aus. An dieser Stelle sammeln wir uns und treffen durch Zufall den Pfarrer von Santa Maria del Camino auf seinem Nachmittagsspaziergang. Irgendwie scheint ihm unser Erscheinungsbild etwas suspekt zu sein; einem stoppelbärtigen Pfarrer in Wanderstiefeln und Shorts scheint er - selbst ganz im schwarzen Anzug mit 'römischer Mauer' - selten zu begegnen, und als er erst erfährt, dass wir in der luxuriösen Edelherberge San Zoilo einkehren wollen, hat er sichtbar Zweifel an der Ernsthaftigkeit unserer Pilgerschaft. Wir vereinbaren, gemeinsam mit ihm die Abendmesse zu feiern, und er scheint von unserem Kommen nicht so ganz überzeugt zu sein.

Toni schlägt vor, irgendwohin zu gehen "eppes trinken", während Wolfgang, Gert und ich die Autos mit dem Gepäck von Frómista herbeiholen. Nach unserem Eintreffen besuchen wir zunächst das Kloster Santa Clara mit seinem sehenswerten Museum, anschließend fahren wir weiter in die Stadt, wo uns der Pfarrer persönlich durch die Santiago-Kirche führt, die jetzt ebenfalls als Museum dient. Die meisten Ausstellungsgegenstände hat er, wie er stolz berichtet, selbst in jahrelanger Arbeit zusammengetragen; er ist sichtlich erfreut, soviele aufmerksame Zuhörer zu haben und erklärt uns u.a., woran man das herrliche Kruzifix als 'deutsches' erkennt. Zuletzt ermuntert er uns noch, auch den Turm zu besteigen; leider ist die Aussicht durch die Lochbleche etwas 'eingeschränkt', aber es lohnt sich dennoch.

Endlich fahren wir weiter zum Kloster San Zoilo, das etwas außerhalb der Stadt, am anderen Ufer des Rio Carrión liegt. Wir sind beeindruckt von dem herrlichen Haus; einzeln oder in kleinen Gruppen nutzen wir, nachdem wir uns den Staub des Tages abgeschrubbt haben, die Zeit bis zur Abendmesse zur Besichtigung des riesigen Klosters. Besonders beeindruckend ist der Renaissance-Kreuzgang, der als 'eine der feinsten und prachtvollsten Bildhauerarbeiten ganz Europas' gilt.

Kloster San Zoilo - Kreuzgang

Ein kleiner Höhepunkt des Abends ist die Teilnahme an der Abendmesse in Santa Maria del Camino. Toni ist Mit-Zelebrant und wir dürfen einige Lieder zum Ablauf beisteuern. Wie schon mehrmals in anderen Gemeinden sind auch hier die Gottesdienstbesucher ganz begeistert von unserem einfachen Gesang; aus einem fernen Land scheint er die Menschen hier auf eine ganz besondere Art und Weise anzusprechen, für die wir keine einfache Erklärung finden. Jedenfalls bedanken sich viele von ihnen bei jedem einzelnen von uns und wünschen uns weiterhin Buen Camino. Auch hier übernimmt wieder Don Juan, der Pfarrer, die Führung, bis wir uns dann doch endlich loseisen können: Allenthalben hört man Mägen knurren. Im ein wenig zu vornehmen Salon Abad erwartet uns das Abendessen, dann fallen wir endlich in unsere Betten.

Manfred

Unter Brüdern
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