Montag, 8.10.2001 - von Arca nach Santiago - der letzte Wandertag

Kurz nach Mitternacht um 7.00 Uhr bringt Karolin meine Sachen getrocknet zurück. Der Kaffeetisch ist schon komplett besetzt, als ich endlich ankomme: 8.00 Uhr. Manfred lässt sich von der christlichen Caritas überwinden und teilt statt eines halben Mantels einen halben Weck mit mir. Sogar Schinken und Käse stehen zum Frühstück bereit. Ja, der Weg geht zu Ende! Schade! Schade!

Danach heißt es wieder "packen" auch die nassen und klammen Kleider. Ich werde wieder als letzter erwartet: die Knochen sind müde geworden! Und dann starten wir um Punkt 9.00 Uhr hin zu jener Tankstelle, die uns gestern aus dem Regen erlöst und vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. In der Talsenke von Salceda, bis dorthin waren wir 1994 gelaufen empfängt uns dichter Nebel. Dort hatten wir gestern die Italiener beim Essen überholt. Die Orte sind nicht mehr geschlossen; sie gehen ineinander über. Oft finden wir keine Ortsschilder mehr. Vor einem Geschäft bei der Tankstelle in Arca ist viel Parkplatz, aber nur für 2 Autos; die beiden anderen scheinen besser am Straßenrand zu stehen. Noch ist blauer Himmel! Ist der letzte Tag wieder ein schöner Tag?

Unser Weg führt zunächst durch Eukalyptus Wald, häufig auch mit Pinien durchsetzt. Es steigt ab und zu. Es nieselt ab und zu. Wir gehen schweigend. Der Weg ist mit Zweigen und Blättern vom gestrigen Unwetter übersät. Bald entdecken wir die Italiener vor uns. Wir beginnen sie gruppenweise zu überholen. Sie beten den Rosenkranz. Wir passieren San Anton. Auch wir sammeln uns und beten den glorreichen Rosenkranz. (Am Nachmittag werden wir wohl die Vororte von Santiago passieren; da wäre das gemeinsame Gebet schwieriger).

- für die eigene Familie, die Freunde und die Anvertrauten
- für die Kinder und Jugendlichen der Familien und Pfarrgemeinden
- für alle, die über Krieg und Frieden zu entscheiden haben
- für die Ausbreitung des christlichen Glaubens im Geiste des Jakobus
- für alle Verkündiger und für uns selbst.

Wiederholt steigt der Weg so stark an, dass wir im Gebet pausieren, weil die Luft ausgeht. Wir gehen durch den Wald. Im Weg sind Wasserfurchen vom Vortag. Wiederholt öffnen wir die Schirme oder ziehen die Regencapes über vor kleinen Schauern. Da taucht ein Wegweiser auf: Santiago 12 km. Eine Säule mit Jakobussymbolen lädt zum Fototermin ein. Der Weg führt bergab an einer großen Straße entlang. Ob es wirklich nur mehr 3 Stunden bis zum Ziel sind? oder eben bis zum Stadtrand?

Wir passieren den Flugplatz von Santiago und sehen eine Maschine starten. Dann findet sich nach 2 Stunden Wanderung um 11.30 Uhr ein Rastplatz. Die Meditation des Tages ist fällig: die Ziele und das Ziel!

Wir kommen durch Lavacolla mit seiner Kirche, überqueren einen Bach und steigen gleich wieder bergauf. Doch die Rochuskapelle finden wir nicht. Es ist ein allgemeiner Zug nach Santiago: keine Umwege und Aufenthalte mehr, schweigend nur zu!

Wir kommen nach Vilamaior und halten uns ein paar Minuten an der sogenannten Waschstelle der Pilger auf. Die Parkplätze laden nicht ein, da schwarze Regenwolken über uns hängen. Einige sind schon auf dem Weg weiter Vorläufer als die ersten Tropfen fallen. Bevor Beatrix einen Bauern in seinem Traktor fragen kann, zeigt er schon auf das Tor vor seinem Schuppen: wir fliehen und erreichen gerade noch das schützende Dach, als ein kräftiger Regen niedergeht.

Wir richten uns ein: zerren eine alte Bank hervor, richten einen Holzbock zurecht, legen ein paar Bretter zurecht und schauen in den Regen auf dem Hof. Beatrix verteilt zum allgemeinen Mittagessen Brot, Schinken, Oliven und Sardinen.

Doch wo sind Rohrs, Bettina, Karolin und Gert? Kein Zeichen und kein Laut! Ob sie dem Regen wie am Vortag getrotzt haben? Dann eine Anfrage von Gert aus dem Bus Wartehäuschen: Habt ihr noch Platz? Bei uns ist es arg eng, so wie bei Sardinen in der Büchse! Ja, wir haben Platz. Und sie kommen. Leider nicht ganz so komfortabel wie im Hotel. Schließlich räumen wir unsere Einrichtungen wieder auf, wir sind ja ordentliche Deutsche, doch die "Ouvrage" bleibt. Noch ein Foto von dem schönen Hahn, der die Luft nach dem Regen testet. Die Hühner im Stall gackern "Ade". Seit Lavacolla laufen wir Teerstraße. Es geht in die Beine. Wir lassen TV Galego und TV E seitlich liegen und streben San Marcos zu: Der Monte del Gozo kommt mit dem Denkmal in Sicht. Wir ersteigen ihn im Sauseschritt. Doch leider versperrt uns ein kleiner Hain die Sicht auf die Stadt Santiago. Am Fuße des Hügels in der Kapelle singen wir "Ihr Freunde Gottes...", während draußen der nächste Schauer niedergeht. Am Kiosk löschen wir noch einmal den Durst, dann geht es abwärts auf die Stadt zu; die Türme der Kathedrale tauchen für einige Meter auf. Beim "Stadtschild Santiago" hält ein Radpilger aus München an. Manfred beginnt sogleich Conversation. Der Weg durch die Vorstadt will nicht enden. Das Ziel kommt nicht näher. Doch dann ist Cruz de San Pedro erreicht: hier beginnt die Kernstadt, hier betreten wir die Altstadt. Wir gehen immer wieder im Gänsemarsch hintereinander. Die Gassen werden enger; plötzlich geht es leicht bergab. Wir passieren die Kathedrale am Nordtor und erreichen die Plaza del Obradoiro. Und weil sofort wieder ein starker Schauer niedergeht, flüchten wir uns unter die Arkaden des Palacio Rajoy aus dem 18. Jahrhundert gegenüber der Kathedrale. Wir sind vom Anblick der Kathedrale überwältigt! Links steht das Hostal de los Reyes Catolicos, 1492 von Isabel von Kastilien und Ferdinand von Aragón als Pilgerherberge gebaut, heute Luxushotel, doch müssen echte Fußpilger bewirtet werden. Die Fassade der Apostelbasilika wurde um 1750 fertiggestellt. Sie ist dem romanischen Bau vorgesetzt, eine sehr gelungene und harmonische Arbeit.

Aus einem offenen Bogen im Mittelteil der Fassade blickt die Statue von Santiago Peregrino herab. Darunter flankieren zwei Jünger seinen Reliquienschrein. Links an die Kathedrale eingefügt steht der Romanische Bischofspalast. Wir sind (fast) am Ziel! Bernhard weiß, dass die Pilger die Kathedrale durch das Nordtor betreten müssen. Also: Marsch zurück durch das Nordtor und nehmen Platz im Mittelschiff: Überall gehen und stehen Pilger aber keine wie wir!! Während jene in feinen gepflegten Kleidern dahertrippeln, sind wir vom Weg gezeichnet: Edgar, Wolfgang und ich selbst unrasiert, seit 10 Tagen, alle verschwitzt, teils vom Regen getränkt und mit einem begeistertem Leuchten in den Augen: Wir haben es geschafft! Angekommen!! Wir stimmen das Te Deum an und singen drei Strophen. Dann gehen wir hinauf und begrüßen die Jakobus-Statue: wir halten sie von hinten fest und drücken sie. Danach gehen wir in die Krypta und verweilen ein paar Minuten am Grab. Ein Wärter gibt uns Auskünfte: um 20.30 Uhr ist eine lange hl. Messe, gleich um 18 Uhr aber können wir in einer Seitenkapelle die hl. Messe feiern; morgen ist um 12.00 Uhr allgemeines internationales Pilgeramt mit dem Botafumeiro; gleich gegenüber an der Südseite ist das Pilgerbüro, wo wir unsere Pilgerurkunden bekommen können. Während Brigitte und Wolfgang, dem weich in den Knien wurde, ins Hotel fahren, stöbern wir zum Pilgerbüro: Ausweis vorzeigen, Listen eintragen, Fragen beantworten und Urkunde im Empfang nehmen. Hinten im Flur steht eine Menge Wanderstöcke aber wir behalten unsere! Dann bricht draußen die große Erlösung aus: Alle umarmen sich, drücken sich, gratulieren sich mit vielen Tränen in den Augen! Wir haben es geschafft! Wir sind angekommen! Das Ziel ist erreicht!! 7 Jahre waren wir unterwegs! Wir gehen zurück in die Kathedrale: der Wärter hat schon alles für uns vorbereitet: gegenüber dem Jakobusgrab feiern wir in der Michaelskapelle die hl. Messe; drei Frauen von Saarbrücken kommen hinzu. Unser Gesang erregt Aufsehen: Viele bleiben vor dem geschlossenen Gitter stehen. Beatrix trägt die Lesung vor, Helga macht die Kollekte, die Fürbitten kommen aus der Gruppe. Nach sieben Jahren Wanderschaft am Ziel! Es packt uns! Wir sind alle tief ergriffen und tief beglückt; danach gehen wir zum Hauptportal und bestaunen die romanischen Skulpturen, die uns Beatrix ausführlich erklärt.

Ein Taxi bringt die Fahrer zu den Autos nach Arca. Ein anderes Brigitte, Helga und Karolin zum Hotel. Der hl. Rest geht gute 20 Minuten zu Fuß. Um 20.30 Uhr sind die Autos da! Eine wahre Odyssee durch das Land und die Stadt! An 4 Tischen essen wir im feudalen Salon zu Abend: Melone mit Schinken, Schnitzel mit Fritten und Erbsengemüse. Zum Nachtisch gibt es galizischen Mandelkuchen. Manfred ist total unruhig: Er will noch am Abend das Auto ans Finisterra vorfahren, damit er sich gleich in der Frühe auf den Weg dorthin machen kann. Leider findet er keinen Gefährten. Die Mehrzahl der Gruppe macht sich noch einmal zu einem Stadtbummel auf; da trifft man diese und jene, die auch schon unterwegs ins Visier gekommen waren. Herrlich der Platz und grandios die angestrahlte Kathedrale. Mit einem Veterano an der Theke geht der Tag um 22.45 Uhr zu Ende.

Toni

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