Dienstag, 9.10.2001 - Pilgermesse in Santiago und Fahrt ans Finisterre

Heute Morgen wollen wir uns die Stadt, die mehrere Jahre als das große Ziel unserer Wanderschaft vor uns lag und nun endlich erreicht ist, etwas genauer anschauen und um 12 Uhr am großen Pilgergottesdienst in der Kathedrale teilnehmen. Doch zuerst genießen wir das Frühstücksbuffet in unserem Hotel "Peregrino". Dem Namen nach ist es ein echtes Hotel für Pilger, den Sternen nach jedoch nur für "Luxus" oder "Kreditkartenpilger". Dass es sich bei uns um ebensolche handelt, beweisen viele Stempel in unseren Pilgerausweisen leugnen wäre zwecklos. Ich freue mich besonders, Wolfgang wieder unter uns zu sehen. Es geht ihm besser und er kann das Frühstück auch genießen, genau wie wir.

Gut gestärkt treffen wir uns in Zivil d. h. ohne Rucksack, Stöcke oder schwere Wanderschuhe in der Hotelhalle, um gemeinsam in die Altstadt zu gehen. Doch es dauert eine ganze Weile, bis alle zusammen sind und es endlich losgehen kann. Es sind eben keine 20 oder 25 km mehr zurückzulegen, sondern wir haben heute Touristenprogramm auf unserem Plan.

Eine gute Viertel Stunde laufen wir, bis wir an die Porta da Faxeiras kommen, hinter der die malerischen Gassen der Altstadt beginnen. Durch die belebte Rua Nova, vorbei an großen vornehmen und kleinen idyllischen Häusern, alle durch steinerne Arkaden miteinander verbunden und erbaut aus mächtigen Steinquadern, geht es zum Platz hinter der Kathedrale, der "Praza Quintana". Umsäumt von hohen Steinmauern und schönen Palastfassaden, öffnet sich von hier der Blick auf die Ostpartie der Kathedrale mit der Puerta del Perdon, dem Heiligen Tor, das nur im Heiligen Jahr geöffnet wird. Es wurde 1611 errichtet unter Verwendung der romanischen Figuren aus dem alten Chor der Kathedrale. Nachdem alles fotografiert und gefilmt ist, gehen wir am Uhrenturm vorbei zum sehenswerten Seitenportal der Goldschmiede, der "Puerta de las Platerias" aus dem 11. Jahrhundert. Während ich noch aus dem Dumont über die Flachreliefs und Skulpturen aus der Entstehungszeit des Gotteshauses vorlese, beginnt es zu regnen und wir suchen in der Kathedrale Schutz. Im Inneren erzähle ich mehr von der Geschichte und der Architektur dieser dritten über dem Apostelgrab errichteten Kirche. Das Innere der riesigen Wallfahrtskirche ist noch unverändert aus der Zeit der Romanik und beeindruckt durch seine Weite und majestätische Schlichtheit.

Da wir relativ früh an sind und gerade wenig los ist, nehmen wir vor dem legendären Portico de la Gloria des Meisters Mateo in der Vorhalle Aufstellung und betrachten uns dieses Meisterwerk der Bildhauerkunst aus dem 12. Jahrhundert. Es gilt zu recht als das bedeutendste und eindrucksvollste aller romanischen Portale Spaniens. Berühmt ist vor allem die Figur des Apostels Jakobus auf dem Mittelpfeiler, der auf seiner Rückseite den "Heiligen mit den Beulen" zeigt, der bei den Pilgern nicht minder beliebt ist. In ihm hat sich vermutlich Meister Mateo selbst dargestellt. Nach altem Brauch soll der, der seine Stirn an diesen Beulen etwas reibt, ein wenig vom Genie dieses Baumeisters übertragen bekommen. (ich warte immer noch, dass ich die Wirkung spüren kann.)

Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, und wir setzen unser Besichtigungsprogramm wieder draußen fort. Die Fassade der Kathedrale, die erst 1750 dem alten romanischen Portal vorgebaut wurde, beeindruckt durch die Überfülle von Schmuckelementen und die barocke Verspieltheit des Gesamten. Im Sonnenschein macht sie ihrem Namen "Werk aus Gold" alle Ehre. Nicht weit entfernt, an der Schmalseite des Kathedralvorplatzes, liegt das altehrwürdige Pilgerhospiz, das die Katholischen Könige Isabella und Ferdinand bereits im 16. Jahrhundert für die damaligen Pilger haben erbauen lassen. Eine einfache Fassade mit einem umso prächtigeren, figurenreichen Portal; es führt heute in eines der schönsten Hotels Spaniens, einen 5-Sterne-Parador, der auf Jahre im voraus schon ausgebucht ist.

Während ich meine Augen nicht von dem Portal lassen kann und ganz begeistert erzähle, lassen einige ihre Augen in ganz andere Richtungen schweifen und entdecken vor der Kathedrale manche Pilger, die uns in den letzten Tagen immer wieder auf unseren Etappen begegnet sind. Sie sind genau wie wir gestern bereits am Apostelgrab angekommen; Manfred, Bernhard und auch die meisten anderen können nicht länger zuhören, sondern eilen zu dem kleinen roten Kugelblitz und ihren Freunden.

Nachdem alle wieder zurück sind, versuche ich Einlass in die alten Gemäuer des Hospitals der Könige zu bekommen, da die vier Innenhöfe, die Kirche und der Kreuzgang laut Reiseführer auch für Nicht Hotelgäste zugänglich sind. Wir haben Erfolg und dürfen hinein, doch die Gruppe folgt mir nicht. Die möchte viel lieber in die Kathedrale, um gute Sitzplätze für den Gottesdienst zu bekommen. Denn in der heutigen Pilgermesse soll nach der Kommunion das große Rauchfass, das "botafumeiro" geschwenkt werden. Toni, Edgar, Helga, Brigitte und Regina haben dieses atemberaubende Schauspiel bereits vor 8 Jahren während einer Pilger- und Studienfahrt nach Portugal und Spanien miterlebt, und so wissen sie, dass die Plätze im Querhaus am besten geeignet sind, die Schwingungen des Rauchfasses zu sehen. Wir kommen so früh in die Kirche, dass wir in den ersten Bänken des nördlichen Querhauses Platz finden. Brigitte hat sogar noch Zeit genug, um im Pilgerbüro ihre und Wolfgangs Urkunde abzuholen. Toni setzt währenddessen in der Sakristei wieder alle Hebel in Bewegung, dass wir während der Messe ein deutsches Lied singen können, mit Bernhard als Vorsänger am Mikrofon.

Auch wenn uns am Morgen in der Stadt kaum Pilger oder größere Gruppen begegnet sind, so ist die Kathedrale beim Gottesdienst zum Bersten gefüllt. Mehr als 20 Priester stehen am Altar. Und obwohl viele Nationalitäten anwesend sind, spielt sich fast alles leider nur auf Spanisch ab. Bis auf unser Lied "Ein Haus voll Glorie schauet", von dem wir dank Bernhards Hartnäckigkeit sogar alle 5 Strophen singen! Ich bin enttäuscht, dass die Spanier den vielen Fuß- und anderen Pilgern zumindest sprachlich nicht ein wenig mehr entgegenkommen. Doch vielleicht sind es auch einfach zu viele, die Tag für Tag und Jahr für Jahr nach Santiago kommen, dass die Einheimischen schon fast genug haben? Diese Gedanken gehen mir nach der Predigt so durch den Kopf.

Botafumeiro

Das Rauchfass kommt wie angekündigt nach der Kommunion zum Einsatz; es ist schon ein besonderes Erlebnis, aber das Rauchfass ist dann doch nicht groß genug, um mich zusammenzucken zu lassen, wenn es so über uns schwebt.

Da wir nun das erste Mal alle zusammen in der Kathedrale sind, gehen wir noch einmal gemeinsam zur Krypta und zum Hochaltar an das Apostelgrab. Viel Zeit bleibt uns nicht, denn wir wollen ja noch zum Finisterre fahren. Also geht es schnellen Schrittes zurück zum Hotel, unterwegs kaufen wir noch etwas Proviant für das Picknick, und los geht es, ans Ende der Welt.

Viele knurrende Mägen signalisieren, dass die Suche nach einem Picknickplatz nicht mehr allzu lange hinausgezögert werden sollte. Doch Manfred an der Spitze leitet uns erst noch zu einem Aussichtspunkt an idyllische Wasserfälle. Viel können wir ihnen nicht abgewinnen; wir wollen weiter. Endlich finden wir eine Stelle am Wasser, das sich wegen der Ebbe vorübergehend etwas zurückgezogen hat. So können wir ein gutes Dutzend Angler beobachten, die im Schlamm nach Regenwürmern graben. Gut gestärkt mit Brigittes "Busenkäse" und Oliven, deren Kerne Toni zum Wett-Weit-Spucken verleiten, machen wir uns auf den Weg. Der zieht sich unendlich hin und nimmt mehr Zeit in Anspruch, als gedacht. Endlich ist der Leuchtturm zu sehen, und schon bald stehen wir vor ihm. Karina kann von hier sogar Amerika sehen! Hinter dem Leuchtturm geht es steil die Felsen hinunter, doch ein Abstieg ist in Freizeitkleidung zu gefährlich. Brigitte, Bernhard, Karina, Bianca und ich bleiben auf halber Höhe, von hier lassen sich auch gute Fotos machen. Die Sonne scheint uns angenehm warm auf den Pelz; hier könnte man es länger aushalten doch: irgendwoher kommt auf einmal ein bestialischer Gestank und dicke Rauchschwaden. Wir entdecken einen Pilger, der seine Kleider und Schuhe verbrennt. Schnell treten wir den Rückzug an, denn der Heimweg ist noch lang, und vorher stärken wir uns noch im Hafen von Finisterre mit Kaffee und Eis.

Für den Rückweg wählen wir eine andere Strecke, die uns schneller erscheint als der Hinweg. Doch wir verpassen den entscheidenden Abzweig nach Santiago, müssen uns durchfragen und ein gutes Stück zurückfahren, bevor wir auf der kurvenreichen Höhenstraße doch nur langsam vorwärtskommen. Ich will schon im Hotel anrufen, dass sie das Essen warm stellen doch Toni hält mich davon ab. "Wir schaffen das", sagt er immer wieder. Hätten wir auch, wenn sich Manfred kurz vorm Ziel nicht von dem Aussehen der Seitenstraße hätte abschrecken lassen und nach rechts abgebogen wäre; stattdessen landen alle 4 Autos in der Rua Franca, einer Fußgängerzone inmitten der Altstadt. Bernhard findet als erster den Weg zurück zum Hotel, wo wir zwar mit Verspätung, aber dafür exzellent zu Abend essen. Besonders der Nachtisch hat es Karolin und den "Küken" Bianca und Karina angetan. Karolin kämpft sich tapfer durch ihre Riesenportion, frei nach dem Motto "ich lass nix übrig, und wenn es mir zu den Ohren wieder rauskommt".

Nach solch opulentem Mahl wollen Karina, Karolin, Karin, Bettina, Bernhard, Manfred und ich den letzten Abend in Santiago noch mit einem Spaziergang zur Kathedrale krönen. Zu Fuß passieren wir in der Rua Franca gerade die Stelle, an der wir wenige Stunden zuvor mit den Autos festgesessen waren, als wir von drei deutschen "Heidenkindern" folgende Worte vernehmen: "Der mit den weißen Haaren und der roten Jacke war auch mit dabei." Haben sie unser Manöver mit den Autos an genau dieser Stelle etwa mitbekommen? Doch wieso haben Sie sich nur Bernhards Aussehen eingeprägt? Bis uns einfällt, dass sie nur Bernhards Vorsingen während des Pilgergottesdienstes gemeint haben können.

Nicht nur die Fassade der Kathedrale, auch alle übrigen Gebäude rund um ihren Vorplatz sind herrlich erleuchtet und tauchen die Stadt in eine faszinierende Atmosphäre. Auf dem Vorplatz begegnen wir einer kleinen Gruppe bayrischer Buspilger in Begleitung ihres Pfarrers. Schnell reift zwischen ihm und Bernhard der Entschluss, an diesem besonderen Ort und vor dieser Kulisse noch ein gemeinsames Lied anzustimmen. Wir schaffen es sogar, den Kanon "Lobet und preiset ihr Völker den Herrn" dreistimmig zu singen.

Den wohlverdienten Schlummertrunk genehmigen wir uns dann in der Hotelbar, wo ein lustiger Kellner Karinas Bestellung singend entgegennimmt und auch singend serviert. Besonders gut meint er es beim Veterano mit uns müden und vom Gesang durstigen Pilgern: er verteilt den Rest in der Flasche solange, bis wir schließlich 4-fache Brandys im Glas haben. Ein schöner Abschluss für einen schönen Tag!

Beatrix

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