Dienstag. 2.10.2001 -
Von Herrerias nach Biduedo (22,5 km)
Der Wind pfiff um die uralten, meterdicken Mauern. Es war eiskalt. Die Federn in meiner Matratze haben sich immer
wieder bemerkbar gemacht und mir eine gute Nacht gewünscht. Trotz allem habe ich geschlafen wie ein Murmeltier im
alten Hostal San Geraldo auf dem Cebreiro, direkt neben der alten Kirche. Unseren Wecker brauchten wir nicht.
Pünktlich bellte der Hund des Hauses alle Pilger zum Frühstück. Und nun liegt er groß und breit vor einer Tür des
Hostals, in das wir gerne hineinmöchten. Wie sollen wir nur an ihm vorbeikommen? Wer weiß, wie viele Pilger er zum
Frühstück verspeist! Wir entdecken eine kleine Pforte, machen einen Umweg, klettern über 4 Holzstufen und gelangen
durch den Hinterhof zum Haupteingang. Endlich sind wir an unserem Frühstückstisch angelangt! Auf einfachen, schmalen
Holzbänken sitzen wir um einen langen, rohen Tisch und freuen uns über ein echtes Pilgerfrühstück. Nachdem wir uns
gestärkt haben für den heutigen Tag, werden die Autos gepackt. Von unserem Balkon beobachte ich unsere
Pilgergefährten. Manfred entdeckt mich und bringt mir als "Sänger vom finsteren Walde" ein Ständchen: "Die Dame
auf dem Balkon, singt im allerhöchsten Ton." Mit den Autos fahren wir gemeinsam zurück nach Herrerias, dort, wo
wir gestern hundemüde die Wanderung beendet haben. Heute Morgen sind wir frisch und putzmunter, bereit, den
Aufstieg zum O Cebreiro zu bezwingen. Zuerst führt unser Pilgerpfad am Bach entlang, ein schöner Wiesenweg,
vorbei an einer Waschstelle.
Über einen mit großen Steinen belegten Weg aus alten Zeiten geht es durch eine Schlucht steil hinauf nach La
Faba. Die Gruppe zieht sich auseinander, die Schnellen voraus erwarten uns im kleinen armseligen Dorf.
Verschnaufpause! Hinter La Faba bewundern wir eine traumhaft schöne Landschaft. Es gibt wunderschöne Ausblicke
ins Tal. Wir schauen und staunen und halten an zur Meditation:
Über die Augen spricht Toni. Sie sind die Türen zu unserer Seele. Was wir sehen, müssen wir einlassen und
speichern. Und doch ist es nur ein winzig kleines Stück, was wir in unserem Leben aufnehmen können. Diese
Meditation erinnert mich an ein Zitat von Goethe, der es ähnlich ausgedrückt hat: "Trinkt, o Augen, was die
Wimper hält, von dem goldenen Überfluss der Welt." An die Endlichkeit und Begrenztheit unseres Lebens denkend,
beenden wir unsere Meditation mit dem Lied: "Wir sind nur Gast auf Erden." Mit Ginster und Farn am Wegesrand
und einer immer wieder wechselnden wunderschönen Aussicht geht es weiter aufwärts bis wir am einsamen Bergpfad
den galicischen Meilenstein entdecken. 152 km so weit ist es noch bis Compostela.
Dieser besonders schöne Stein mit Wappen und Jakobuskreuz markiert die Grenzlinie zwischen Kastilien und
Galicien mit der Provinz Lugo. Nun steht alle 500 m ein Kilometerstein, und wir freuen uns immer wieder,
wenn wir einen halben Kilometer unserem Ziel näher kommen, nur Brigitte gefällt es nicht, sie möchte den Weg
noch ein bisschen ziehen! Bald erreichen wir wieder die ersten Häuser von O Cebreiro. Es ist ein uraltes
Keltendorf in 1300 m windiger Höhe mit runden, mit Stroh und Ginster gedeckten Häusern Pallazos, aus
Bruchsteinen errichtet, ohne Fenster und eine schlichte romanische Kirche. Früher war dieser kleine Ort
nach der anstrengenden Bergtour eine Zufluchtsstätte für die Pilger.
Wegen seiner Geschichte, die man sich
in ganz Europa erzählte, ist O Cebreiro einer der interessantesten Orte am Jakobsweg. Im Seitenaltar der
Bergkirche stehen ein vergoldeter Kelch und ein Hostienteller zur Erinnerung an ein Wunder, das sich um 1300
hier ereignet haben soll: Obwohl ein heftiger Schneesturm tobte, kam ein Bauer aus einem weit entfernten Ort
wie jeden Tag zur Messe in das kleine Kirchlein. Als der Priester, ein Zweifler und Spötter, den Bauern sah,
dachte er bei sich: Wie dumm muss der doch sein, wegen ein bisschen Brot und ein bisschen Wein nimmt der
solche Strapazen auf sich. Im selben Augenblick verwandelte sich die Hostie in Fleisch und der Wein im Kelch
in Blut. Man spricht von O Cebreiro auch vom "Galicischen Gralsberg", er soll Richard Wagner zu seinem Parsifal
inspiriert haben.
Eine Muttergottes aus dem 12. Jahrhundert wird in der Kirche verehrt, Santa Maria La Real. Sie ist die
Schutzpatronin dieser Gegend. Neben der Kirche ist der 1989 verstorbene Dorfpfarrer Don Elias Valina
Sampedro begraben. Seinen Bemühungen ist es zu verdanken, dass der Cebreiro und der Jakobsweg wieder
ganz im Dienst der Pilger stehen.
Ein kalter Wind bläst auch zur Mittagszeit hier oben. Während unsere Fahrer per Jeep-Taxe zurück nach
Herrerias fahren, die Autos nachholen und weiter vorfahren nach Biduedo, machen wir Mittagspause. Bald
geht es weiter, abwärts, über die Hauptstraße. Vor uns liegt nun Galicien, das grüne Land, ferne, tiefe
Täler. Großartige Ausblicke genießen wir von der Passhöhe zu den weit unten liegenden Dörfern und Tälern,
ein Höhenzug hinter dem anderen aufsteigend. Weit unten können wir auch die Autobahn erkennen, Bernhards
"Teststrecke" von gestern! Zwei originelle Pilger überholen uns, die italienische Flagge weht auf ihren
Rucksäcken. Wie weit sie wohl schon gegangen sind?
Alle Berge sind vor uns ausgebreitet! Es geht wieder
hinauf zur Anhöhe San Roque, ein Pilgerdenkmal in 1246 m Höhe, ein Pilger mit Pilgerstab und Kalebasse,
die Tasche umgehängt. Es geht ihm genau wie uns, er muss auf stürmischer Höhe seinen Hut festhalten.
Nach 2 km Landstraße erreichen wir Padornelo. Wir machen Pause auf einer Steinmauer. Unser Weg führt weiter
am Friedhof vorbei, Gräber wie Schließfächer, verwildert und mit vielen bunten, künstlichen Blumen. Nun heißt
es wieder, alle Kräfte zusammennehmen, kurz aber steil geht es den nächsten Pass hinauf, den Alto de Poio,
der 1337 m hoch ist. Wir keuchen mit letzter Kraft den Berg hinauf, von oben beobachtet von Regina, Walter,
Karin und Gert, die uns mit ihrem schnellen Aufwärtsschritt im Stich gelassen und schon längst das Gasthaus
entdeckt haben, wo wir uns mit einem kühlen Trunk erfrischen können. Nun geht es endgültig abwärts nach
Biduedo, das heute unser Ziel ist. Eine kurze Wartezeit. Pilgerpass stempeln lassen, Brot und Käse einkaufen,
die letzten Reste verzehren. Toni schält sich einen Apfel, und prompt schneidet er sich in den Finger. Ich bin
sicher, es war ein Apfel vom verbotenen Baum, den ihm Eva geschenkt hat, sonst könnte so etwas doch auf einer
Wallfahrt nicht passieren! Bald sind unsere Fahrer zur Stelle und bringen uns nach Sarria, wo uns ein schönes
Hotel und ein gutes Abendessen erwarten.
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